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Welt ohne Männer

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LiteraturMieko Kawakami legt mit Natsu Monogatari eine psychologische Sozialstudie in Romanform über das Leben von Frauen unter der täuschenden Oberfläche des kapitalistischen Japans vor. In seiner Rezension zeigt sich Stephan Reimertz begeistert von der neuen Stimme aus Japan, kritisiert jedoch die deutsche Ausgabe.

»Makiko hatte nichts gelernt. Ich, ihre Schwester, hielt mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Midoriko war noch ein Kind und musste versorgt werden. Keine Versicherung, null Verwandte. Die Wahrscheinlichkeit, reich zu heiraten und auf einen Schlag aller Sorgen ledig zu sein, ebenfalls null. Nein, weniger als null. Blieben noch Lotto und Sozialhilfe.« Aus diesem Milieu, bei uns mit dem Euphemismus Prekariat umschrieben, stammen die drei Protagonistinnen in dem Roman Natsu Monogatari der 1976 in Osaka geborenen Mieko Kawakami.  Die dreißigjährige Natsuko, ihre ältere Schwester Makiko und deren zwölfjährige Tochter Midoriko bilden das weibliche Terzett, an dem die Autorin die Konfrontation von Weiblichkeit mit dem modernen Gesellschaft in Japan durchexerziert. Natsu Monogatari ist ein Roman über das Leben von Frauen, dabei bei weitem nicht das, was man, wiederum mit einem Euphemismus, einen Frauenroman nennt.

Sozialer Aufstieg dank Brustvergrößerung?

In der schwierigen, ja aussichtslosen Situation ergreift Makiko die Flucht nach vorn und leistet sich eine Brutvergrößerung und Spitzenaufhellung. Der Pushup als Lift in den sozialen Aufstieg dürfte kaum ein exklusiv japanisches Phänomen sein. Hier tut sich einer der vielen Widersprüche im Leben heutiger Frauen weltweit auf. Auch im Westen bringt die Brustvergrößerung für eine Frau leider immer noch sehr viel mehr, ist leichter zu bewerkstelligen und wirkt sich schneller auf den sozialen Aufstieg aus als ein akademischer Abschluss. Der Autonomieanspruch gerät in Konflikt mit der Realität, die es Frauen immer noch einfacher macht, bei einem Mann unterzuschlüpfen und von seinem Status zu profitieren als selbst einen Aufstieg zu erkämpfen, da ihnen dieser von den Männern schwer gemacht wird. So zementieren die Frauen selbst jene Strukturen, die sie in der Selbstverwirklichung behindern. Das zeigt Mieko Kawakami in Natsu Monogatari sehr eindringlich in Nahaufnahme. In Japan haben Frauen mädchenhaft und niedlich zu sein; eine kulturelle Standardvorstellung, die ja auch in europäischen Ländern wie Österreich und Frankreich tradiert wird. Das Mannweib Brunhild, würde in anderen europäischen Ländern oder gar in Asien nicht verstanden werden. Dort liegt ihre persönliche Stärke gerade in ihrer Weiblichkeit. Für den europäischen Leser dürfte Natsu Monogatari mit den armen und tapferen Frauen im Japan von heute besonders interessant sein, nicht nur aufgrund seiner literarischen Qualität und sprachlichen Direktheit, sondern auch wegen des Bildes, das er vom Alltag dieses Landes erhält und das ihm den Vergleich zu seinem eigenen Land und die Situation der Frauen dort ermöglicht.

Mieko Kawakami Brüste und Eier
Cover: DuMont Buchverlag

Hyperkitsch und Tussenlektüre: Die verunglückte deutsche Ausgabe

Die Japanologin Katja Busson, der wir u. a. Übertragungen von Junichiro Tanizaki, Keigo Higashino, Shugoro Yamamoto verdanken, übersetzt Natsu monogatari in ein frisches, geschmeidiges, idiomatisches und präzises Deutsch. Der Tussenbuchumschlag und der abstruse, tödlich verunglückt Titel der deutschen Ausgabe erweisen Mieko Kawakami und ihrem Roman freilich einen Bärendienst. Natsu monogatari heißt schlicht Sommergeschichte, »Brüste und Eier« jedoch ist mehr als missverständlich. Die verfälschende deutsche Ausgabe verfällt eben jenem Warenfetischismus, den der Roman gerade beklagt. Wenn ich eine Frau wäre, käme ich mir veralbert vor, wenn mir jemand ein derart infantil aufgemachtes Buch schenkte. Warum nicht Madame Bovary, Tess of the D’urbevilles und Effi Briest in solchem hellblau-rosa Heiteitei-Décor? Der Umschlag mit dem hyperrealistischen Motiv à la Jeff Koons und die Passivkonstruktion gleich zu Beginn des Klappentextes, das rosa Lesebändchen, der abstruse und provokative Übersetzungstitel Brüste und Eier werfen die Frage auf, wie ernst es der deutsche Verlag mit seiner japanischen Autorin und ihrem Roman meint. Dabei hätte es Natsu Monogatari von Mieko Kawakami verdient, als Literatur gekennzeichnet und nicht als »Frauenliteratur« verniedlicht zu werden.

Mieko Kawakami
Brüste und Eier
DuMont Buchverlag, Köln 2020
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