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Jeden Tag ein Kunstwerk kaufen! Ein Moment mit … Annette Seemann, Schriftstellerin und Autorin des neuen Buches über Peggy Guggenheim

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In Frankfurt geboren, in Weimar zu Hause … Das gilt nicht nur für den Dichter des West-östlichen Divans, sondern auch für Annette Seemann, Autorin der neuen Biographie von Peggy Guggenheim, welche am heutigen Tage im Berliner Verlag ebersbach und simon erscheint. Heute Abend liest die Schriftstellerin in Weimar bei den LesArten, am 15. März auf der Leipziger Buchmesse. Stephan Reimertz sprach mit Annette Seemann über ihr vielseitiges Schaffen, Weimar, Paris, das Geheimnis des Kunstsammelns, die exzentrische Sammlerin Peggy Guggenheim und ihre Vorlieben.

Feuilletonscout: Verehrte Frau Dr. Seemann, ich gehöre zu den nicht wenigen Fans Ihres Romans Das falsche Kind. Viele Leser bedauern, dass Sie seit der hinreißenden Mutter-Kind-Geschichte bisher keine weiteren Romane geschrieben haben. Wie kam es, dass Sie mit Ihren kulturhistoriographischen Monographien und Kinderbüchern eine ganz andere Richtung eingeschlagen haben?
Annette Seemann: Das ist eine berechtigte Frage, und ich muss sagen, dass vieles in meinem beruflichen Leben einem Zufallsprinzip folgte: Eine Anfrage kam, und ich habe sie beantwortet, eine zweite kam, auch diese. Letztlich haben sich alle meine biographischen Frauenbiographien aus der Arbeit für das FAZ-Magazin ergeben, nicht zuletzt das Peggy-Guggenheim-Buch, das es ja schon einmal und zwar lange bei econ&list gab. Der Fokus auf die Kulturgeschichte und speziell dazu Weimar ergab sich durch den Wegzug aus Frankfurt nach Weimar 2002: Es war wie bei Goethe, der Ort hat mich gebannt. Die beiden Kinder- und Jugendbücher sind letztlich aus Anfragen von hiesigen Buchhändlern entstanden, »dass es zu Anna Amalia und Weimar doch gar nichts für Kinder gibt«.

Peggy Guggenheim Annette Seemann
© Annette Seeman

Feuilletonscout: Obgleich Sie Frankfurterin sind, haben Sie sich im Laufe der Jahre mit Weimar eng verbunden. Sie leben dort, sind Vorsitzende der Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek (GAAB) und haben der Stadt und ihrer Fürstin Anna Amalia vielgelesene Standardwerke gewidmet. Wie war für Sie und Ihre Familie der Anfang in der Stadt und wie fühlen Sie sich dort heute?
Annette Seemann: Das war sehr einfach, und wenn man mit Kindern im schulpflichtigen Alter ankommt, gibt es vielfältige sofort verpflichtende Einbindungen, die Schulen, die Musik, der Sport – wir kamen dort 2002 an und wurden sehr freundlich aufgenommen, in jeder Hinsicht. Durch mein erstes Buch, den Literarischen Reiseführer im Insel-Verlag, musste ich umgehend alle wichtigen Experten Weimars kennenlernen, und das war gut so. Denn man schätzte, dass ich mit keiner Überlegenheitsgeste ankam, sondern bescheiden, dass ich die Kennnisse der Experten zu würdigen wusste. Und auch haben wir es sofort so gemacht, zu jedem Essen eine gemischte Runde von ganz und gar Einheimischen und nach der Wende einheimisch Gewordenen einzuladen. Das ist bis heute so. Und das hat sich sehr bewährt, wir haben sehr gute Freunde hier gefunden und fühlen uns sehr wohl.

Feuilletonscout: Außer Ihrem kulturpolitischen Wirken und Ihrer außerordentlich produktiven schriftstellerischen Tätigkeit und Ihrer Übersetzungen aus dem Italienischen und Französischen haben Sie zusammen mit Ihrem Mann drei Kinder großgezogen. Wie bringt man all das unter einen Hut?
Annette Seemann: Ich glaube, das geht nur mit einer guten täglich neu tarierten Struktur. Jeweils habe ich abends einen Plan gemacht, wie der nächste Tag im Einzelnen abzulaufen hatte, was ich wann wem mitzugeben hatte, wen wann von wo abzuholen hatte oder hinzubringen, was eventuell auch Helfer irgendwann tun mussten, die gab es zeitweise, auch eine wunderbare Kinderfrau aus Kasachstan war dabei. Das Schreiben geht bei mir am besten morgens, und das habe ich versucht, immer einzuplanen, zwei Stunden und zwei bis vier Seiten.

Feuilletonscout: Wie haben Sie den Weg von der Queen der Deutschen Klassik, Herzogin Anna Amalia, zu den Königinnen der Bohème am Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts wie Frida Kahlo, Gala Dalí und nun Peggy Guggenheim gefunden?
Annette Seemann: Nun, eigentlich ist es ja umgekehrt gewesen: von den schrägen Frauen zur Herzogin. Die schrägen Frauen wurden mir ja quasi angeboten, wie ich oben erwähnte, sie gehörten zur Frankfurter Zeit. Und es war klar, dass ich, als ich nach Weimar kam, gepackt wurde von einer Persönlichkeit, die bereits im 18. Jahrhundert so viel Kraft hatte, dass sie die gesamte Kulturentwicklung als 18 Jahre alte Frau neu aufgestellt hat. Anna Amalia hat mich sofort in ihren Bann gezogen, sie war eine Bücherleserin, eine Sprachenfreundin, sie liebte die Musik, sie komponierte sogar, sie zeichnete, sie liebte Italien und hat sich mit 39 Jahren als Witwe eine Italienreise von fast zwei Jahren errungen … ich darf sie bewundern, denn ich hätte das im 18. Jahrhundert bestimmt nicht geschafft (abgesehen davon hat sie die 16 Jahre zuvor das Fürstentum Sachsen-Weimar und Eisenach vorbildlich regiert).

Feuilletonscout: Sie nennen einen »Wesenszug Peggys, alles, selbst die Gefühle der Menschen zunächst im Hinblick auf ihren (pekuniären) Wert zu betrachten«. Das klingt nicht unbedingt anziehend. Wie hätten wir Peggy Guggenheim erlebt? Als warmherzige, einfühlsame Gastgeberin und Mäzenin, oder als nervende amerikanische Millionärstochter?
Annette Seemann: Das Geheimnis Peggy Guggenheims ist ihre Widersprüchlichkeit, und diese hat mich gerade fasziniert: Sie kann großzügig sein, wenn es sie ankommt, und sie kann geizig sein. Es fällt sie an, niemals weiß man genau, was und wann es so oder so ist. Wenn Sie in Laune ist, gibt sie gern Geld aus, wenn nicht, lässt sie niemanden in den Palazzo. Sie war einfach immer beides, von Anfang an, und niemand wusste, wie er sie antreffen würde. Die Millionärstochter hatte sie ja früh abgestreift und lehnte dieses Image auch ab, aber je reicher sie über die Kunstsammlung dann auch gerade nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, holte sie dieses Bild doch wieder ein. Geld spielte immer eine Rolle, und warmherzig war sie wohl so richtig nie. Eher scharfzüngig, ironisch, natürlich auch durch ihre Erlebnisse so geprägt worden, aber doch auch verletzlich, angewiesen darauf, dass sie bewundert wurde und auf jeden Fall beachtet.

Peggy Guggenheim 1937*

Feuilletonscout: Sie schreiben: »Peggy Guggenheim war eine Sammlerin – zuerst von Männern. Ihre Auswahlkriterien waren eindeutig: Männer mussten schön sein.« Eine kleine Spießerin war Frau Guggenheim jedenfalls nicht. Was können heutige Frauen von ihr lernen?
Annette Seemann: Nun, ob ich mir wünschen würde, dass heutige Frauen von ihr und ihrem Beziehungsschema lernen? Eher nicht, denn sie war derartig sprunghaft in ihren Beziehungen, dass ich derartiges keinem Mann wünsche. Eben deshalb wurde sie dann auch im Alter so einsam. Das muss man auch bedenken. Vielleicht kann man jedoch etwas von ihr lernen: Dass es sich lohnt, lange darüber nachzudenken, wofür man seine Lebenskraft (bei ihr noch: ihr Geld) wirklich einsetzen möchte.

Feuilletonscout: Wollte Peggy Guggenheim durch ihre Vorliebe für schöne Männer auch ihr eigenes Aussehen kompensieren, das sie als nicht ideal empfand, betonte sie doch selbst, sie habe eine »Kartoffelnase«, die sie vergeblich versuchte, operativ verschönern zu lassen?
Annette Seemann: Bestimmt gab es auch eine solche Komponente, aber das kann ich nicht nachweisen. Jedenfalls ging sie ziemlich souverän mit all ihren »Macken« um.

Feuilletonscout: Sie betonen, dass Guggenheim Künstler, Intellektuelle, kultivierte, exzentrische Männer bevorzugte. Ist das die typische Wahl einer Oberschichtsfrau, oder könnte auch Lieschen Müller von einer solchen Wahl profitieren?
Annette Seemann: Nun, ich glaube, dass es für sie ja nicht auf wirtschaftliche Sicherheit über einen Mann ankam. Sie hatte ja Geld. Aber sie suchte das Abenteuer, in jeder Hinsicht, erotisch, ästhetisch, vom Lebensstil her, das waren nun mal die Roaring Twenties mit ihrer Beschleunigung. Nur eine Frau mit ihren Voraussetzungen konnte das so leben, erleben, ausleben. Ein Lieschen Müller hätte sich auch gar nicht so herausputzen können, um diese Männer, um die es ihr ging, zu bezaubern.

Feuilletonscout: Kann man das besessene Kunstsammeln bei Peggy Guggenheim auch als Versuch interpretieren, die Verlustangst nach dem Tod des Vaters zu kompensieren, der beim Untergang der Titanic ertrank, als Peggy dreizehn Jahre alt war?
Annette Seemann: Das Männersammeln und das Kunstsammeln habe ich ja als zwei Seiten einer psychischen Struktur gesehen, und insofern mag das der Auslöser gewesen sein: Sammeln, möglichst viel, möglichst gut, um nichts zu verlieren.

Feuilletonscout: Peggys Vorfahren waren jüdische Einwanderer aus Deutschland und der Schweiz, noch ihr Großvater zog als Hausierer in New York von Haus zu Haus. Schon ihr Vater war ein hochkultivierter Mann, der Wert auf künstlerische Erziehung seiner Kinder und regelmäßige Europareisen legte. Man kann von einer Familienentwicklung im Zeitraffer sprechen, wie man sie in Deutschland bestenfalls von Familien wie den Mendelssohns kennt. Adelige deutsche Clans brauchen dafür Jahrhunderte. Hat sich diese rasante Entwicklung in Peggy Guggenheims Persönlichkeit widergespiegelt?
Annette Seemann: Auf jeden Fall hat sie etwas davon, und ihre lückenhafte Bildung ist auch zu betonen. Man hat auf diese damals noch gar nicht viel Wert gelegt, was sie wiederum irgendwann selbst erkannte und ändern wollte. Daher auch bewunderte sie die Intellektuellen und die Künstler so sehr.

Feuilletonscout: In ihren Geständnissen über den Verlust ihrer Jungfräulichkeit mit dreiundzwanzig Jahren im Pariser Hotel Plaza Athénée erweist sich Peggy als Angeberin: » … ich verlangte alles, was ich auf den pompejanischen Fresken gesehen hatte«, behauptet sie, wohl auch mit einem Quentchen Humor. War sie tatsächlich in diesem jungen Alter kunsthistorisch schon so gebildet, dass sie beim ersten Sex an die pompejanischen Fresken dachte?
Annette Seemann: Die Kunstgeschichte war letztlich das einzige Bildungselement, das man ihr wirklich mitgegeben hatte, über die zahlreichen Europareisen als Kind und Jugendliche, immer mit einer gebildeten Gouvernante. Insofern halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass das eine wahre, sehr witzige Anekdote ist. Auf solche kam es ihr natürlich auch immer an …

Feuilletonscout: Sie berichten, dass Peggy Guggenheim Frauen meist langweilig fand und auch bei Männern nicht ganz vor dieser Gefahr gefeit war. Wie konnte sie dieses Problem überwinden, und was könnten heutige Frauen tun, um nicht an einen Langweiler zu geraten?
Annette Seemann: Peggy hat in der richtigen Kiste gekramt, sie hat früh erkannt, dass Künstler und Intellektuelle Personen sind, die sich selbst nie langweilen und mit denen man sich daher eventuell auch nicht langweilt. Aber nicht nur unter solchen Männern gibt es ja spannende und weniger spannende Exemplare. Es kommt bei funktionierenden spannungsreichen Beziehungen auf eine intuitiv wirkende Menschenkenntnis an, glaube ich.

Feuilletonscout: Peggy nannte sich »eine befreite Frau«, was Sie in Ihrem Buchtitel aufgreifen. Wieviel von dieser Befreiung verdankt sich ihrem Vermögen und wieviel ihrem freien Geist?
Annette Seemann: Da würde ich sagen: fifty fifty, anders war es nicht zu stemmen.

Feuilletonscout: War Peggy Guggenheim aus Ihrer Sicht eine genuine Kunstsammlerin, welche die Bedeutung von Künstlern erkannte, bevor diese anderen auffiel, die mit ihrer Sammlung Künstler bekannt machte, oder schwamm sie nur im Strom bereits bekannter Namen mit?
Annette Seemann: Nein, sie hat auch Künstler erst zu dem gemacht, was sie wurden, etwa Jackson Pollock. Sie hatte sich durch recht harte Arbeit und Investition von sehr viel Zeit eine Kenntnis der modernen Kunst angeeignet, die sie mit einem angeborenen Spürsinn für Qualität verband.

Feuilletonscout: Seit der Vorkriegszeit nahm sich Peggy Guggenheim vor, jeden Tag ein Kunstwerk zu kaufen. Gibt es in ihrer Sammlung einen roten Faden?
Annette Seemann: Der rote Faden ist die Qualität, sie war ja so offen, das ließ erst im hohen Alter nach, dann interessierte sie sich nicht mehr für die weiteren Entwicklungen in der Kunst.

Coverabbildung © ebersbach & simon

Feuilletonscout: Eine bestechende Idee war zweifellos Peggy Guggenheims Initiative, in ihrer Galerie in London Kunstwerke von Kindern auszustellen, die sich übrigens auch sehr gut verkauften. Und das im Jahre 1938! Nun haben Sie selbst drei Kinder großgezogen. Besitzen aus Ihrer Sicht Bilder, die Kinder gemalt haben, einen künstlerischen Wert per se?
Annette Seemann: Nun, per se würde ich das nicht behaupten, sie besitzen aber, wenn sie mit Elan und Freude gemalt sind, oft einen Charme, eine Frische, die man nicht auf den Bildern Erwachsener kennt. Und Bilder von Kindern können einen künstlerischen Wert haben. Was Peggy tat, war einfach damals total ungewöhnlich, gehörte zu ihrer unkonventionellen Auffassung von allem. Dass sie auch noch Bilder von Lucian Freud, dem späteren Maler, damals kleinem Enkel von Sigmund Freud, aufgenommen hat, zeigt wieder ihren unglaublichen Sinn für Qualität: Das musste noch aufgenommen werden, obwohl es eigentlich zu spät eingeliefert wurde.

Feuilletonscout: Ein Bohèmeleben in Paris wie in den Zwanziger Jahren, wie es Peggy Guggenheim in Gesellschaft von Künstlern wie Jean Cocteau, James Joyce und dem König der Bohème Laurence Veil (den sie auch heiratete) geführt hat, ist heute nicht mehr möglich. Heute siegt auch in Paris das innerlich leere Spießertum der neoliberalen Langweiler und erstickt jedes Leben. Wo könnte man heute hingehen, um so zu leben wie Peggy in den Zwanziger Jahren? Nach Weimar?
Annette Seemann: In Weimar kann man wunderbar forschen und entspannt leben. Aber so leben wie Peggy in den 20er Jahren? Wollen wir das überhaupt noch? Könnten wir es? Da bin ich ziemlich skeptisch.

Feuilletonscout: Nun hat Peggy Guggenheim nach dem Zweiten Weltkrieg selbst ihre Memoiren geschrieben. Wie unterscheidet sich Ihre Biographie von Guggenheims Buch?
Annette Seemann: Ich hinterfrage und interpretiere da vieles, ich gewichte auch die Dinge – bei Peggy selbst passiert immer alles auf derselben Wichtigkeitsebene, daher ist ihre Autobiographie auch so umfangreich. Alles ist gleich wichtig. Das ist der wichtigste Unterschied. Zweitens habe ich auch eine Menge von Sekundärliteratur ausgewertet, die Schriften von ihren Zeitgenossen herangezogen, und da ergeben sich doch so manche wichtige Erkenntnisse ….

Vielen Dank für das Gespräch, Annette Seemann!

Annette Seemann
Ich bin eine befreite Frau. Peggy Guggenheim
ebersbach & simon, Berlin 2018
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*By archives familiales (1937, dédicace personnelle, archives familiales) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY-SA 4.0-3.0-2.5-2.0-1.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0-3.0-2.5-2.0-1.0)], via Wikimedia Common

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