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Zum 75. Geburtstag von Edgar Krapp: Der transzendentale Code des Menschen

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Feuilletonscout Das Kulturmagazin für Entdecker MusikZum dreißigsten Todestag von Olivier Messiaen Ende April spielte Edgar Krapp auf der erweiterten Sandtner-Orgel der Münchner Michaelerkirche Werke des französischen Komponisten. Am 3. Juni feiert der in Bamberg geborene Krapp seinen 75. Geburtstag. Von Stephan Reimertz.

Sie erinnern sich sicher noch an den schwarzen, hochkant stehenden Steinblock, der plötzlich in der Welt der Menschenaffen in dem Film 2001 – Odyssee im Weltraum auftaucht. Er steht da als das vollkommen Inkommensurable und wird auch nicht weiter erklärt. Als einen solch archaischen und zugleich in fernste Zukunft deutenden Block kann man manches Orgelwerk von Olivier Messiaen sehen, dessen Todestag sich am 27. April zum dreißigsten Male jährte. Kaum weniger legendär als der französische Komponist selbst ist der Organist, welcher zu diesem Anlass seiner Werke in der geistesgeschichtlich so zentralen Kirche St. Michael in München vortrug: Edgar Krapp feiert Anfang Juni seinen 75. Geburtstag, und das Wagnis eines Überblicks über das schwer zu fassende Orgelwerk des Kollegen, der sechzig Jahre lang auf der Organistenstelle der Dreifaltigkeitskirche in Paris diente, wurde am Todestag zu einer Sternstunde des ohnehin schon mit Erlesenstem angefüllten Münchner Lebens.

Gereinigt von den Elementen

Spontan mag der Hörer die zum Auftakt in St. Michael erklingende Apparition de l’église éternelle (Erscheinung der ewigen Kirche, 1932) in die französische Musikgeschichte einordnen wollen und in diesem einfachen und starken Präludium mit seinem proklamativen Gestus ein transzendentales Gegenstück zu der nicht nur in Frankreich jedem Klavierschüler bekannten Cathédrale engloutie (Die versunkene Kathedrale, 1910) aus dem ersten Band der Préludes von Claude Debussy sehen. In der Tat ruft die Vorführung einer für einen Franzosen, insbesondere, wenn er in der Normandie wohnt, nicht ganz so ungewöhnlichen, aus Meeresfluten aufsteigenden und wieder versinkenden Kathedrale bereits im nachimpressionistischen Hörbild von Debussy Momente einer transzendentalen Diaphanie, eines Durchscheinens, auf. Bei Messiaen freilich hat das Erscheinen der ewigen Kirche dann alle Reste der Elemente, handle es sich auch um Erde oder Wasser, vollständig abgestreift. In einem herben und kühnen dreistufig aufsteigenden Motiv, maximal einfach gehalten und den Hörer herausfordernd, erscheint die Kirche in rein spiritueller, zeitloser Gestalt. In strengen, unbehauenen Marmorblöcken steht diese besonders hochragende Scala Sancta vor uns. Unser Äußerstes müssen wir geben, um hinanzusteigen, allein sie ist gerade nur so steil, wie wir es schaffen können.

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St. Michael in München / Foto: Petra Dirscherl  / pixelio.de

Ein frankreichgerechtes Instrument

An dieser Stelle ist ein Wort zu sagen über das Instrument. Mit 75 Registern auf vier Manualen und Pedal verfügt die mehrfach überarbeitete Sandtner- bzw. Rieger-Orgel nicht über die schlechtesten Voraussetzungen, erhebliche historische und stilistische Breite von Literatur zu interpretieren. So wies Hans Maier in seinen charmanten Einleitungsworten darauf hin, wie sehr es sich hier um ein »frankreichgerechtes Instrument« handle, welches sich »weitab vom isometrischen Ebenmaß« befinde. Hans Maier? Tatsächlich war der bayerische Kultusminister und Bestsellerautor aus unserer Studienzeit nicht aus der in St. Michael befindlichen Wittelsbachergruft aufgestiegen, sondern hineinspaziert wie alle anderen und befand sich im jugendlichen Alter seiner neunzig Jahre mitten unter uns. Seine fachkundige Huldigung an den Organistenkollegen Messiaen galt dem Diener der Orgel, welcher ein Menschenalter lang in Ste-Trinité seinem Instrument vorsaß. So ist es in Frankreich seit Jahrhunderten üblich; man denke nur an César Franck, der den Orgeldienst in der neogotischen, von fast überall in Paris sichtbaren zentralen Basilika Ste-Clotilde versah, oder an Maurice Duruflé, der Titularorganist in Saint-Étienne-du-Mont war, einer der am vertracktesten gebauten Kirchen der Hauptstadt. Stets wirkten die performativen und räumlichen Möglichkeiten von Instrument und umgebender Räumlichkeit, die der Organist vorfand, auf den Komponisten zurück. So streiften auch die luxuriösen Klangmöglichkeiten von Messiaens Arbeitsplatz Ste-Trinité im 9. Pariser Arrondissement die zu seinem Todestag vereinten Münchner. Die an Il Gesù in Rom orientierte Jesuitenkirche, einst Zentrum der bayrischen Gegenreformation, war gesteckt voll, als handle es sich um ein lateinisches Hochamt in St. Kajetan. Die Disziplin und genaue Reaktion des Publikums, offenbar mit dieser Musik nicht weniger vertraut als die Besucher der Theatinerkirche mit dem lateinischen Ritus, erfreute am Abend des Gedenktages ebenso wie die Abgesandten der Mädchenelite von Maria 1.0; diese Kraft und Klarheit der kommenden Generation!

Unerwartetes Wiedersehen und -hören

Der Autor dieser Zeilen gesteht, wie es ihn rührte, nach Jahrzenten Hans Maiers Hausväterstimme wieder zu hören. Natürlich haben wir Münchner Studenten Anfang der achtziger Jahre über den Kultusminister, den überall in Deutschland auch diejenigen kannten, die nicht einmal den Namen ihres eigenen hätten nennen können, nicht weniger gespottet, als über unseren über allem schwebenden Erzbischof und unseren in jeder Hinsicht überdimensionalen Ministerpräsidenten. Allerdings verbarg sich in dem Spott nicht wenig Stolz. Dies zeigte sich spätestens, als der Erzbischof uns mit leisem Servus! verließ und nach Rom zog. Nun wird Rom bayrisch! Wie bayrisch, konnten wir damals noch nicht ahnen. Hans Maier, der vielbeneidete Vater von vier Töchtern, spielte selbst die Orgel beim ersten Deutschlandbesuch von Johannes Paul II. Erinnern Sie sich noch an den Augenblick, da Organist Maier ein gewagt modernes Stück vortrug, und der gewiefte Kommunikator aus Polen mit satirischem Lächeln alle im Raum wissen ließ, wie wenig ihm dieses behagte? Johannes Paul gab damit eine Probe jener coincidentia oppositorum von Konservatismus und Humor, die sein gerade anhebendes Pontifikat so erfolgreich prägen und den ehemaligen Erzbischof von Krakau zu einem Hexenmeister der öffentlichen Wirkung machen sollte, falls man einen Pontifex so bezeichnen darf… naja; sagen wir: Pater angelicus.

Wagnis der Kunst wie des Glaubens

Der orgelspielende Kultusminister hatte sich was getraut, und ebendiese Welt- und Zeitbereitschaft rühmte er nun im April in München an dem Kollegen Messiaen. Der Komponist ist einerseits Teil der Renouveau catholique, der ursprünglich französischen Form eines intellektuellen Katholizismus, die eine soziale und geistige Erneuerung der Gesellschaft anstrebte, und zu der so unterschiedliche Geister wie Charles Peguy, Paul Claudel und François Mauriac zählen. Den Dichtern, Philosophen und Theologen gegenüber hat der Musikant von vornherein den Vorteil der Universalität. Das gilt besonders für den weltoffenen Olivier Messiaen, und damit haben wir einen Hinweis auf die Art seiner Katholizität: Persönlicher Glaube, musikalisch-liturgischer Kirchendienst und intellektuelles Umfeld mögen ihn zum praktizierenden Katholiken bestimmt haben; entscheidend bleibt, Messiaen ist katholikós im wörtlichen Sinne von: allumfassend. So wie einer, der auf Englisch sagt: I have very catholic interests damit nicht meint, er bete den Rosenkranz, sondern er lese die ganze Encyclopedia Britannica durch. So rühmte Prof. Maier die Universalität des Komponisten, der rand- und außereuropäische Musik ebenso in sein Werk einströmen ließ wie Vogelstimmen, ja der ein weltweit geachteter Experte auf dem Gebiet nicht nur des bird watching, sondern vor allem des bird listening wurde, und der unseren gefiederten Brüdern und Schwestern auch in seiner 1983 in Paris uraufgeführten Oper zu Ehren des Hl. Franz von Assisi jene Bedeutung einräumte, die diesen Wunderwesen zusteht, die heute verzweifelt um ihr Überleben kämpfen.

Göttlicher Humor

Die Vögel, aber nicht nur sie allein, sind bei Messiaen stets Träger einer weiteren Dimension: Eines in seiner Leichtigkeit und Anmut schwer zu fassenden Humors, der als die oberste Sphäre seines Singens und Sagens von den letzten Dingen in diesem musikalisch-geistigen Werk einen unverrückbaren Platz findet. Sehr Schweres und sehr Leichtes vermag seine weiße Magie zu binden. Um es mit Worten von Kardinal Gerhard Ludwig Müller zu sagen: »Humorlosigkeit ist der größte Feind des Reichs Gottes.« Edgar Krapp spielte zwei der vier sinfonischen Meditationen L’Ascension (Die Himmelfahrt, 1934), die Vogel- und Engelsstimmen ununterscheidbar machen, zugleich herausfordernd Menschlichstes berühren. Die Botschaft der Musik wie der Kirche ist komplex und einfach zugleich, und an beidem gibt es viel zu deuten und nichts zu deuteln. Allein der Vergleich mit den kosmischen Stürmen der Duineser Elegien ist bei diesen Orgelmeditationen noch möglich. Krapp als virtuosen Organisten zu bezeichnen wäre zugleich sehr richtig und sehr falsch. Das Technische ist bei dem vollendeten Musiker überhaupt keine Frage mehr. Wie da ein Mensch sich entblößten Hauptes letzten Fragen stellt, konnte die Zuhörer nur sprachlos zurücklassen, die sich nach dem Konzert einmütig erhoben. Wir alle waren Schallkörper dieses Gedenkkonzerts, zusammen mit dem Cruzifix des Giambologna über unseren Köpfen und unter unseren Füßen den sterblichen Überresten von sechsunddreißig Erlauchten des Hauses Wittelsbach, darunter Herzog Wilhelm V., Kurfürst Maximilian I. und König Ludwig II.

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