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Das 23. Internationale Literaturfestival ist unter einer neuen Leitung eröffnet

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Erste Eindrücke von Birgit Koß.

Im ausverkauften Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek an der Potsdamer Brücke wurde am 6.9. das 23. Internationale Literaturfestival erstmals unter der Leitung von Lavinia Frey eröffnet. Ulrich Schreiber, der das Festival gegründet und bis letzte Jahr geleitet hat, wurde allseits gewürdigt und mit Dank überschüttet – morgen Abend gibt es eine fulminant besetzte Ehrung für ihn in der Staatsbibliothek Unter den Linden. 

Was ist geblieben: Die internationale Besetzung der vielen Gäste – ca. 150 Autoren und Autorinnen aus 40 Ländern in etwa 150 Veranstaltungen, das große Interesse des begeisterten Publikums, Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Austausch und zum „Anfassen“, Themenschwerpunkte , die sich mit aktuellen Zeitfragen beschäftigen wie dieses Mal „Words of Love and Hate“, wo es um die Vorstellungen von Geschlechterrollen geht und vieles mehr.

Neue Ideen, die Lavinia Frey in ihrer Begrüßungsrede vorstellte, sind für die nächsten Jahre eine internationale kuratorische Besetzung für die Programmplanung, ein starker Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit, was auch beinhaltet, das die internationalen Gäste nicht nur für wenige Tage in die Stadt eingeflogen werden, sondern zumindest am ganzen Festival teilnehmen können und ab sofort die Betonung des wichtigen Teamgeistes – Offenheit, Vertrauen, Austausch.

Zurück zur Eröffnung: Das international besetzte Trickster Orchestra verzauberte das Publikum mehrfach mit ungewohnten Klängen. Zur Erinnerung an die Bücherverbrennung von 90 Jahren las die elfjährige Gewinnerin des Vorlesewettbewerbs des Deutschen Buchhandels Celia Spickhoff aus „Pünktchen und Anton“ von Erich Kästner auf so lebhafte und engagierte Weise, dass das Publikum mit einem wahren Beifallssturm reagierte. Auch am Folgetag lasen Schülerinnen aus „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun zum Beginn einer Veranstaltung – besser kann man die Jugend in dieses Festival nicht mit einbeziehen.

Francesca Melandri © Carlo Traina

Die italienische Schriftstellerin und  Dokumentarfilmerin Francesca Melandri, die 2018 mit Ihrem Roman „Alle außer mir“ einen internationalen Bestseller hatte, hielt eine bewegende Eröffnungsrede über den „Ultraschall des Schweigens“. Sie sagte:

„Die tiefste Bedeutung, Relevanz und Ausdruckskraft der von mir verfassten Texte liegt sehr oft nicht eigentlich in den Worten im Text begründet, sondern in denen, die nicht darin sind. Der Kern des Textes, seine Energie, wenn Sie so wollen, liegt nicht so sehr in den Worten, sondern in den Leerstellen zwischen ihnen. In dem, was angedeutet wird, was ungesagt bleibt.“

Gleichzeitig verwies sie auf die negative Kraft des Verschweigens. Sie blickte weit zurück in die Geschichte, in die amerikanische Verfassung, in der die Würde aller Menschen garantiert wurde, ohne über die Sklaverei zu sprechen. Oder die Rolle der Sowjetunion im zweiten Weltkrieg und das Sowjetische Ehrenmal in Berlin in der Straße des 17. Juni.

„Es wurde 1945 erbaut, als der Tiergarten noch eine öde Fläche und Berlin ein Trümmerhaufen war. Man könnte es als riesige, dem glorreichen Sieg der Roten Armee über den Nationalsozialismus gewidmete Multimedia-Installation bezeichnen – mit Säulengang, Stufen, Statuen und sogar einem Panzer. Zirka jede zwanzigste Frau zwischen acht und achtzig Jahren war in Berlin gerade von den Soldaten der Sowjetarmee vergewaltigt worden, als das Denkmal errichtet wurde, deshalb nannten die Berlinerinnen es das »Denkmal des unbekannten Vergewaltigers« – aber was wissen Frauen schon von Denkmälern, sie sind zu emotional und verstehen nichts von Ruhm, oder Sieg.“

Francesca Melandri zog den Bogen des Verschweigens in der Politik weiter bis zum heutigen Krieg in der Ukraine – der ebenfalls im Festival in mehreren Veranstaltungen thematisiert wird – und endete mit dem Fazit, das Schweigen eine mächtige Waffe sei und sie ihre Aufgabe als Schriftstellerin darin sehe, darauf das zu achten, was verschwiegen wird, um dann dieses Schweigen zu benennen.

Navid Kermani © Schirin Moaiyeri

Auch die anschließende Veranstaltung mit Navid Kermani und seinem neuen Roman „Alphabet bis S“ war fast ausverkauft. Eva Matthes verlieh seinen Worten einen eigenen Charakter. Kermani bedient sich diesmal einer Erzählerin, um in der Form eines Tagebuchs von 365 Tagen Alltägliches und Tiefgründiges nebeneinanderzustellen. Seine Protagonistin ordnet nach mehreren Schicksalsschlägen ihr Bücherregal neu – in alphabetischer Reihenfolge und beginnt sich durch die Literatur zu arbeiten von Peter Altenberg über Attila Bartis, Emily Dickinson, Joachim Ringelnatz bis zu Nelly Sachs. Die Frage der Moderatorin, was mit den fehlenden Buchstaben sei, da gäbe es doch auch noch genügend Interessantes, ob also Kermani an einer Fortsetzung arbeite, wurde von ihm verneint.

Der renommierte Autor war am Folgetag außerdem Teilnehmer auf dem Podium zum „Alphabet der feministischen Revolution“ neben dem Theaterdramaturgen und Autor Amir Gudzari, der seit 2009 in Wien im Exil lebt. Sein zorniges deutsches Debüt „Das Ende ist nah“ ist gerade bei dtv erschienen. Die Dritte im Bunde war die deutsch-iranische Journalistin, Autorin und Ärztin Gilda Sahebi. Unter der Leitung der ebenfalls iranisch stämmigen Moderatorin Aida Baghernejad diskutierten sie über die aktuelle Situation im Iran , aber auch viel über die Hintergründe und langjährigen Entwicklungen und die Versäumnisse der europäischen Regierungen. Sie gingen der Frage nach, wie die Proteste, die letztes Jahr im September begannen, am besten zu beschreiben wären – als Demokratiebewegung oder als feministische Revolution? Navid Kermani kam zu dem Schluss, die aktuelle Situation als Revolte zu bezeichnen, die er am Anfang mit viel Skepsis – wegen der Brutalität des Regimes – betrachtet hatte, aber nun doch einen gewissen Optimismus verspürt, weil er, ebenso wie Gilda Sahebi, glaubt, dass die Ablehnung des Regimes auf so breiter Ebene der iranischen Bevölkerung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, auch wenn sie noch viele Opfer kosten wird.

Während das Publikum noch tief versunken in politische Fragen war, stellte Ilija Trojanow direkt anschließend seinen jüngst erschienen Roman „Tausend und ein Morgen“ in einer szenischen Lesung vor, begleitet von den Musikern Dietmar Wiesner und Sava Stoianov vom Ensemble-Modern. Die Protagonistin Cya begibt sich auf eine Zeitreise unter anderem zu karibischen Piraten und zur russischen Revolution. Verspielt und poetisch wagt Ilija Trojanow mit seiner Heldin einen Blick in die Vergangenheit und gibt Cya die Macht, sie umzugestalten, sodass die Zukunft nicht ein düsteres Krisenbild sondern eine erfrischende Utopie wird – eine Revolution des Denkens und Erzählens.

Während das Festival sich noch bis zum Wochenende auf verschiedene Veranstaltungsorte in der Stadt verteilt, zieht es zu Beginn der zweiten Woche wieder vollständig in die Schaperstraße, was, wie zu hören war, von vielen Besuchern mit Freude aufgenommen wird. Besteht doch dort die Möglichkeit, schnell mal zwischen den Veranstaltungen zu switchen und vor allem auf dem Gelände in den Pausen Zeit für viel anregende Gespräche zu finden mit den berühmten Gästen oder auch untereinander – ein nicht zu vernachlässigender Aspekt eines jeden Festivals.

Literaturhinweise:

Francesca Melandri: Alle außer mir
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Wagenbach Verlag, Berlin 2018
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Navid Kermani: Das Alphabet bis S
Hanser Verlag, München 2023
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Amir Gudarzi: Das Ende ist nah
dtv München 2023
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bei Thalia

Gilda Sahebi: Unser Schwert ist Liebe, Die feministische Revolution im Iran
S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2023
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bei Thalia

Ilija Torjanow: Tausend und ein Morgen
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2023
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The 23rd International Literature Festival has opened under a new management

The 23rd International Literature Festival opened for the first time under the leadership of Lavinia Frey in the sold-out Otto-Braun-Saal of the State Library at Potsdamer Brücke. Ulrich Schreiber, who founded and led the festival until last year, was warmly honored and showered with gratitude. New ideas for the future include an international curatorial team, sustainability, and a stronger sense of teamwork.

The festival features approximately 150 authors from 40 countries in about 150 events. One of the focal points is „Words of Love and Hate,“ which explores gender roles. Francesca Melandri delivered an impressive opening speech about silence and its political significance. She emphasized that often, the true meaning of texts lies in the spaces between the words.

Navid Kermani presented his new novel „Alphabet to S,“ in which a protagonist organizes her bookshelf alphabetically and engages with literature. He denied plans for a sequel. Kermani also participated in a discussion on the „Alphabet of the Feminist Revolution“ alongside Amir Gudzari and Gilda Sahebi. They discussed the current situation in Iran and viewed it as a revolt.

Ilija Trojanow introduced his novel „A Thousand and One Mornings“ in a staged reading. The protagonist, Cya, embarks on a journey through time to reshape the past and create a refreshing utopia for the future.

The festival is spread across various venues in the city and returns to Schaperstraße in the second week, which is appreciated by many attendees. This allows for switching between events and engaging in inspiring conversations with guests and fellow participants.

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