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Bestes barockes Unterhaltungstheater: Georg Friedrich Händel „Semele“

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oper-beitragsbildDie Aufnahme aus der Grand Manège Namur ist eine Ko-Produktion mit dem Internationalen Barockopernfestival in Beaune und absolut hörenswert, findet Ingobert Waltenberger.

Fastenzeit, 10. Februar 1744: Die jüngste Händel-Oper erglänzt im Licht der Welt. Oder ist es ein Oratorium? Auf jeden Fall ärgerte diese profane Unterhaltung nicht wenige und nicht nur religiöse Zeitgenossen. Es muss aber etwas ganz unerhört Neues her, um in der heftig das Publikum mit immer wieder neuen Sensationen umgarnenden, von aristokratischen Moden, oberflächlichem Geschmäcklertum, moralisierenden Bischöfen und rivalisierenden Theatergruppen und deren Impresarios geprägten Londoner Opernszene des 18. Jahrhunderts bestehen zu können. So kam es zum Paradoxon, dass ausgerechnet ein Deutscher, um in der rein privat finanzierten englischen Theaterlandschaft auch wirtschaftlich erfolgreich zu sein, die erste Oper in englischer Sprache verfasste.

Händel, der dank seiner einzigartigen, innovativ originellen Musiksprache die barocke Opernwelt  mit seinen über 70 Bühnenwerken (Opern und Oratorien) wie kein zweiter prägte und als künstlerischer Leuchtturm bis heute mit unübertroffenen Premieren- und Aufführungszahlen seiner Opern nachwirkt, war ein gewiefter Geist. Sein untrüglich praktischer Geschäftssinn wusste schon damals: Sex sells. Also packte er die Gelegenheit bei den glatten Hörnern und ließ einen bis heute unbestimmten Literaten das schon 1710 veröffentlichte altenglische Libretto des genialen William Congreve zu seiner „Semele“ überarbeiten und ergänzen. Ob der ehrwürdige Reverend Jennens, selbst Verfasser des Textbuches zum „Messias“, Recht hatte, als er Semele die Qualität als Oratorium absprach und von einer „schweinischen Oper“ berichtete?

Auf jeden Fall bietet die auf eine mythologische Vorlage des Ovid zurückgehende Handlung zu „Semele“ allerlei erotische Untertöne und sexuelle Anzüglichkeiten. Wir hören und sehen charakterlich schwächelnde Götter rund um eine echt doofe Prinzessin aus Theben als in der Partnerwahl durchaus nicht zimperliche Titelheldin. Eigentlich soll Semele, Nichte ihrer Vorgängerin in Jupiters Eroberungszirkus Europa, ja den hübschen Prinz Athamas heiraten. Doch Semele will um jeden Preis ihren Sugar-Daddy Jupiter, damit sie selber endlosem Vergnügen und ununterbrochener Liebe frönen kann. Der altgöttliche Verführer erfüllt der schönen Semele jeden Wunsch. So treibt er die Hochzeitszeremonie durch Donner und das Erlöschen der Opfer-Flammen auf dem Altar seiner Frau Juno auseinander. In der Gestalt eines potenten Adlers fährt er mit seinen purpurfarbenen Schwingen herab und entführt kurzerhand Semele, von azurblauen Flammen umhüllt. Dem entsetzten Bräutigam, der sich alsbald mit Semeles Schwester Ino zusammentun wird, bleibt erst nichts als der „himmlische Entführungsduft“ und der „köstliche Tau“ des mächtigen Adlers als Erinnerung an die Geliebte. Der Arme, man stelle sich vor.

Währenddessen geben sich Jupiter und Semele in dem neuen arkadischen Ferienpalast auf dem Berg Kithairon dem süßen Liebesspiel hin, von grimmigen Drachen bewacht, die niemals schlafen. Die vernachlässigte Ehefrau und begnadete Intrigantin Juno tobt und will Rache. Gerade beglückte ihr untreuer, tragisch hormongesteuerter Mann noch Europa, die attraktive Tochter des Königs Agenor von Phönizien, hat er schon wieder eine neue Bettgeschichte. Gar nicht gut. Schon Congreve wusste: „Hell has no fury like a woman scorned“. Der mürrische Gott des Schlafes, Somnus, wird schließlich bei der Rache helfen, weil ihm die offenbar auch zuhälterisch begabte Juno die Nymphe Pasithea verspricht.

Derweilen beginnt Semele zu schmollen, weil Jupiter sie noch nicht unsterblich gemacht hat. Aus ist es mit den „endless pleasures“. Und so fällt sie, die nach einem Blick in einen verwunschenen Spiegel konstatiert „Myself, I shall adore“, naiv wie ein Gänseblümchen auf eine gemeine List der Juno in Gestalt ihrer Schwester Ino herein: Jupiter werde ihr jeden Wunsch erfüllen, wenn die Schöne ihm nur lange genug ihre sexuelle Gunst verweigert. Und natürlich folgt Semele auch dem Rat Junos, ähnlich wie Elsa von Ortrud in ihrer Wahrnehmung eingetrübt, Jupiter in seiner wahren Gestalt haben zu wollen. Also kommt es, wie es kommen muss. Semele verbrennt im Blitz- und Donnerhagel. Tja, übermäßiger Ehrgeiz hat sich noch nie ausgezahlt.

Dass es dennoch zu einem für die zivilisatorische Zukunft genüsslichen Happy End kommt, verdanken wir dem von Jupiter gezeugten Buben, der aus der Asche Semeles aufsteigen wird. Der dickliche Kleine heißt nämlich Bacchus. Er wird dereinst der rühmlich laubgekrönte Gott des Weines werden, der der Erde das grandiose Vergnügen des Rausches – „mächtiger als die Liebe selbst“ – schenken wird. Wer es noch nicht kennen sollte, möge es doch ausprobieren.

Die in nur vier Wochen fertig gestellte Musik des 58-jährigen Komponisten auf dem Zenit seiner Schaffenskraft strotzt vor hinreißenden melodischen Eingebungen, gefinkelten figuralen Effekten, lautmalerischer Drastik und archaisch mächtigen Chören. Vor allem diese zehn Chornummern gehören mit zum Besten und Erhabensten, was Händel je geschrieben hat. Das abwechslungsreiche Nebeneinander bewirkt, dass dem Hörer auch nach drei Stunden Aufführungsdauer nicht langweilig wird.

Wie treffend David Vickers, Mitherausgeber der Cambridge Handel Encyclopedie, Händels messerscharfe dramatische Instinkte beschrieb: „Zweifelsohne ergötzte sich Händel an den verschiedenen Zutaten des Librettos: Übernatürlichen Begebenheiten, herzlicher Humor, extrovertierter Esprit, erotische Zärtlichkeit, unerfülltes Sehnen, mörderische Eifersucht, kokette Eitelkeit, tragische Verletzlichkeit, Euphorie, und Verlust.“

Die Aufnahme aus Namur greift auf die ursprüngliche Fassung zurück. Die Besetzung der ohne Publikum aufgenommenen Oper agiert als Ganzes ausgewogen, stilistisch einwandfrei und stimmschön. Ana Maria Labin (Sopran, Semele), Matthew Newlin (Tenor, Jupiter, Apollo), Dara Savinoya (Kontraalt, Ino, Juno), Chiara Skerath (Sopran, Iris), Lawrence Zazzo (Countertenor, Athamas), Andreas Wolf (Bass, Cadmus, Somnus, Großpriester) und Gwendoline Blondeel (Sopran, Cupido) singen unter der fein austarierten, differenzierten musikalischen Leitung von Leonardo García Alarcón. Der homogene Chœur de Chambre de Namur ist vollmundiger Verkünder der Botschaften der Priester, aber auch von Loves, Nymphen und Zephyrs. Das Millenium Orchestra sorgt für seidigen Streicherglanz.

Semele ist bestes barockes Unterhaltungstheater. Wer will, kann für sich neben dem Vergnügen der Musik über die Moral der Geschicht‘ – sie wissen schon, das mit dem Pro oder eher Contra von allzu großer Eitelkeit, knallhartem Egoismus und uferlosem Ehrgeiz der Semele – nachdenken. Sogar den Jupiter erwischt die Geschichte in einem magischen Moment kalt: Von dunklen Vorahnungen erfüllt, singt er im dritten Akt das herzzerreißende Larghetto „Come to my arms, my lovely fair“. Natürlich weiß Jupiter, dass er auch diese Liebe schon wieder verloren hat. Kurz darauf, nach dem Streit mit Semele, folgt das traurig resignierende „Ah, wither is she gone!“ Auch dem Gott ist klar, dass er bei solch menschlichem Starrsinn („No, no, I‘ll take no less“, lässt Semele unnachgiebig hören) nichts mehr ausrichten kann. Wie Händel dieses unbeschreibliche Gefühl von Liebesverlust und Hilflosigkeit in zarteste Töne fasst, alleine dafür lohnt sich die Beschäftigung mit diesem unvergleichlichen Meisterwerk.

Georg Friedrich Händel
Semele
Chœur de Chambre de Namur
Millenium Orchestra
Aufnahme aus der Grand Manège Namur vom Juli 2021; Ricercar
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