Zum Inhalt springen

Pro Kino: Wie kriege ich mein Opernhaus leer?

Rating: 5.00/5. From 4 votes.
Please wait...

Im vergangenen Jahr hat unser Rezensent Stephan Reimertz zahlreiche Opernaufführungen besucht und besprochen. Die musikalischen Abende ließen ihn im besten Falle staunen, im schlimmsten Fall an der Kulturwelt schier verzweifeln. In seinem zutiefst polemischen Kommentar kommt er zu der Überzeugung: Die Opernhäuser möchten ihr Publikum nach allen Regeln der Kunst vergraulen.

Um das Kino zu füllen, muss man die Oper leeren. Dafür sorgt das Regietheater. Opernintendanten wie Serge Dorny in München, Bogdan Roščić in Wien, Katharina Wagner in Bayreuth, aber auch Markus Hinterhäuser, Cecilia Bartoli und Rolando Villazón bei diversen Salzburger Festspielen tun durch Auswahl entsprechender Regisseure alles, um ihre Opernhäuser leer zu kriegen. Opernhausentleerungsexperte Stephan Reimertz springt ihnen hier mit elf wirkungsvollen Maßnahmen bei.

Gibt es einen schöneren Anblick als ein leeres Opernhaus? Wenn im abnehmenden Scheinwerferlicht die Staubkörnchen über die hochgeklappten Sitze schweben, kein Räuspern und Husten die weihevolle Stille unterbricht und man höchstens ein paar Mäuse über das Parkett trappeln hört, wenn der von Parfum unbeeinflusste Duft von Holz und Plüsch der Nase schmeichelt, erst dann kommt die ausgeruhte Architektur unserer Opernhäuser voll zur Geltung. Doch leider drängeln sich aller Maßnahmen der Intendanten zum Trotz, das Haus leerzukriegen, immer noch Unverbesserliche an der Billettkassa, um Einlass zu erheischen, besonders wenn bekannte Stimmen angekündigt werden, auch wenn diese schon total ausgeleiert sind.

Das sind unhaltbare Zustände! Besonders in Wien, Salzburg, München und Bayreuth sinnen daher die Operndirektoren auf immer neue Mittel, um in ihren Häusern eine nachgerade buddhistische Leere einziehen zu lassen und mit immer produktiveren Ideen immer mehr Zuschauer auszukehren. Probates Mittel dabei ist das Engagement abschreckender Opernregisseure und die Aufführung werkwidriger Inszenierungen, wie dies seit mehr als einem halben Jahrhundert mit zunehmendem Erfolg praktiziert wird. Die ersehnte finale Lösung ist der völlige Zusammenbruch des Opernwesens. Und von diesem sind wir dank meiner Maßnahmen nicht mehr allzu weit entfernt.

Erste Maßnahme

Was nützt die schäbigste Operninszenierung, wenn die Besucher trotzdem kommen und bis zum Ende auf ihren Sitzen kleben wie die Aktivisten der Letzten Generation auf der Straße? (Die meisten Opernkenner von heute schließen sowieso die Augen, wenn der Vorhang sich öffnet und öffnen sie erst wieder, wenn er sich schließt.) Die wirkungsvollste Opernhausentleerungsmaßnahme ist, wenn der Besucher gar nicht erst im Opernhaus ankommt. Um ihn abzuwehren, haben wir im Schützengraben der Operndramaturgie wirkungsvolle Knallfrösche und Granaten ersonnen, die wir ihm entgegenschleudern, um ihn von seinem frevelhaften Vorhaben eines Opernbesuches abzubringen. Als schwerstes Abwehrgeschütz steht uns dazu ein vom Opernbesucher via Eintrittskarten und Steuern selbst finanziertes vieltausendseitiges Propagandamaterial zur Verfügung. Dazu zählen auch kostenfrei verteilte (vom Opernbesucher qua Eintrittskarte selbst später noch teuer bezahlte) Broschüren und Zeitschriften sowie teure opulente Programmhefte (eher Programmbücher) früherer Aufführungen, die er so unvorsichtig war, zu besuchen. Honorarfrei zusammengeklaubte und ins missverständliche Volapük der Neuen Rechtschreibung versetzte klassische Texte – die Schriftsteller können sich jetzt schon im Grabe umdrehen, die Komponisten werden dies später – , pseudointellektuelles Seminargewäsch von Dramaturgen, prätentiöse Absichtserklärungen von Regisseuren (»Was habe ich mir dabei gedacht?«) wechseln einander mit künstlerischen Illustrationen der Kategorie Das-kann-ich-auch-malen! ab und werden veredelt von grassierender Genderitis und am Ende des Heftes gekrönt von einer Registerarie von »Dramaturg:innen«, »Beleuchter:innen«, »Gardrobier:innen«, »Tänzer:innen«, »Stipendiat:innen der Heinz-Bosl-Stiftung« usw. Außer natürlich in Bayreuth. Da gibt es keine »Sänger:innen« sondern »Singende«! Das erfüllt den Zuschauer mit Zuversicht. Wenn er morgens unter der Dusche singt, ist er zwar kein Sänger, aber zweifellos ein Singender. Darf er demnächst auf dem Grünen Hügel den Lohengrin geben?

Zweite Maßnahme

Habe ich den prospektiven Opernbesucher (vielmehr: den vom Opernbesuch Abzuhaltenden) dergestalt mit aufwendigem Papierbombardement – davon überzeugt, wie wenig ich an seiner Meinung interessiert bin und wie gehorsam er meiner auf vielen tausend Seiten ausgebreiteten ideologischen Propaganda zu folgen hat, bleiben immer noch ein paar Renitente, die sich von dergleichen nicht beeindrucken lassen und tapfer zur Kartenbestellung schreiten. Hier setzt die zweite wirkungsvolle Maßnahme ein, Kecken den Opernbesuch zu verleiden: meine Website. Dieselbe sollte unübersichtlich, abschreckend und schwer zu bedienen sein. Wenn er sie öffnet, soll er glauben, sich im falschen Film zu befinden. Freilich könnte ich einen IT-Nerd engagieren, der auf seinem Designer-Rad vorbeikommt, den Mac im Rucksack, und der mir für kleines Geld eine übersichtliche und leicht zu bedienende Website für mein Opernhaus erstellt. Aber natürlich lasse ich das lieber meine nicht nur kunst- und bildungsfernen, sondern auch IT-fremden Dramaturgen erledigen, die bekanntlich alles ins Chaos stürzen und die mir genau jene chaotische Website fabrizieren, die ich benötige, um weitere Leute vom Opernbesuch abzuschrecken. Wenn es mir, wie in München, gelingt, den Spielplan in weißen Kästchen als eine Art Mondrian für Arme erscheinen und so den Eindruck entstehen zu lassen, der Benutzer verfüge über einen veralteten Browser, habe ich schon Terrain gewonnen. Viele werden resigniert aufgeben und lieber ins Kino gehen. Unbelehrbare, die weiterhin nach der Vorstellung des von ihnen gesuchten Tages Ausschau halten, werden diese nicht finden. Was sie unter dem Stichwort »Programm« suchen, verstecke ich unter dem Begriff »Spielplan«. Da bin ich der reinste Osterhase. Überhaupt stecke ich meine gesamte Kreativität natürlich nicht in die Produktion, sondern in die Verhinderung des Opernerlebnisses – : Von der Gestaltung des Spielplans bis hin zur sinn- und werkwidrigen Inszenierung. Besonders habe ich es auf Neugierige abgesehen, welche die Struktur, das musikalische Gesamtkonzept meines Spielplans (als ob es dergleichen gäbe!) verstehen und sich überzeugen wollen, was am Vortag oder in den voraufgegangenen Tagen gelaufen ist. Das lasse ich nicht zu, das zeigt mein Online-Spielplan nicht an. Sollen sie es doch heraushören, ob ihr Fidelio nach der Fledermaus vom Tag davor klingt, der Tristan vom Donnerstag nach der Lustigen Witwe vom Mittwoch!

Dritte Maßnahme

Sollten die Delinquenten trotz aller meiner Widerstände eine Eintrittskarte ergattert haben und sich auf den Weg zum Theater machen, bleiben mir dennoch etliche Möglichkeiten, zu verhindern, dass sie jemals dort ankommen. Ein probates Mittel ist, unsern Opernwilligen unterwegs abzufangen und ihm ganz nebenbei einen Überblick über fast achtzig Jahre Regietheater zu verschaffen in der Hoffnung, er kriegt dabei die Krätze und läuft schreiend wieder nach Hause. Natürlich beginne ich mit Wieland Wagner, seiner von einer Bayreuther Putzkolonne leergefegten Bühne und der großen als Kochplatte bespöttelten Scheibe inmitten seines Negativbühnenbildes. Wir befinden uns in der Stunde Null. Auf das antike Theater war innerhalb der letzten paar tausend Jahre das geistliche Spiel gefolgt, auf dieses Volkstheater und höfisches Theater, dann das Staatstheater und auf dieses schließlich – und damit sind wir im Niveau tatsächlich bei Null angelangt – das Regietheater. Von nun an wurden Stücke meist auf der Stufe von Studentenulk durch den Kakao gezogen. Nun konnte man pseudointellektuelle Reden schwingen und von Regie quasseln. (Der Begriff Regietheater wirft die Frage auf, ob es auch ein Theater ohne Regie gibt. Zweifellos wäre das besser.) Im Sprechtheater bleiben nur ein paar Studenten, Masochisten und Abonnenten von offiziösen Käseblättern zurück, in denen Freunde der Regisseure die Theaterkritiken schreiben. Der Kluge wich ins Musiktheater aus in der zutreffenden Annahme, dort sei die Regie auch nicht besser, er aber könne die Augen schließen und habe wenigstens noch die Musik. Da im modernen Sprechtheater die Schauspieler die Dichtung nicht deklamieren, sondern drangsalieren, ist ihm dort diese Möglichkeit verschlossen.

Und dann spule ich eine Registerarie von Gräulen ab, gegen die der neunte Kreis der Hölle sich ausnimmt wie ein Kuraufenthalt in Baden-Baden: Mit Rudolf Hartmann, Oscar Fritz Schuh und Günther Rennert hebt meine unmusikalische Suada zunächst noch harmlos, allzu harmlos an. Der Unterschied zwischen Guckkastenbühne und Pralinéschachtel hatte sich zu ihrer Zeit noch nicht herumgesprochen. Ungesund überzuckert wird es dann freilich schnell bei den beifallheischenden Gemütsmenschen August Everding und Otto Schenk. Bis heute ist die stark kalorienüberschüssige Zauberflöte des einen ebenso im Repertoire wie der Stilmöbel-Rosenkavalier des anderen. Man sehnt sich nach der zurückhaltenden Möblierung der freilich sehr einfach gestrickten Karl Friedrich Schinkel und Alfred Roller zurück. Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice nella miseria.

Im Zeitalter der Chinesischen Kulturrevolution, da Millionen von Chinesen lebendig begraben wurden, lasse ich Christoph von Dohnányi dasselbe mit Opernbesuchern veranstalten, jedenfalls am Ende von Fidelio politisch instinktsicher die rote Fahne über die ganze Bühne ausrollen, damit das Frankfurter Publikum wenigstens einen Erstickungsanfall bekommt, wenn ihm schon die Segnungen des Sozialismus wie das Lebendigbegrabenwerden, sei es unter der Erde, sei es in einem vermauerten Kleinstaat, zu seinem Bedauern vorenthalten bleiben.

Wenn in der Inszenierung der Butterfly von Calixto Bieito den ganzen ersten Akt über der perverse Onkel den Hals seiner Whiskeyflasche der kleinen Mädchenpuppe in alle Körperöffnungen steckt, dann weiß der Zuschauer, er befindet sich in einer zeitgemäßen, erkenntnisreichen Operninszenierung.

Wenn in der Inszenierung der Entführung desselben Regisseurs die Martern-Arie der Konstanze als Ritualmord an einer Prostituierten ausgemalt wird, wenn Osmin Frauen quält und benutzt und ständig die Hosen fallen lässt; dann wissen wir: dafür haben schon Liberaldemokraten im Vormärz ihr Leben riskiert.

Oder wir sehen eine Inszenierung von Verdis Forza del destino des Regisseurs Stefan Herheim unter den Linden in Berlin, in der das Opernhaus selbst nachgebaut wurde, Kinder sich exhibitionieren müssen und das Publikum schließlich die Diva Preziosilla zerreißt und zerfleischt.

Im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen Sänger während der gesamten Probearbeit anwesend waren, reist heute ein sängerisches Jetset von Land zu Land, um seine Arien abzuliefern. Möglich wurde dies, weil von den fünfzigtausend Opern, die innerhalb von vierhundert Jahren komponiert wurden, immer wieder dieselben fünfzig aufgeführt werden; Neuentdeckungen sind kaum mehr möglich. Der Sänger hat seine Partie drauf und will nur schnell vom Regisseur dessen »Regiekonzept« erklärt bekommen. Dabei gibt’s da nicht viel zu erklären. Wie der neulich in Bayreuth nach Corona-Ausfällen als Siegfried in letzter Minute eingesprungene Tenor Clay Hilley bewies, macht am besten jeder auf der Bühne was er will.

Ich nehme das Wort Publikumsbeschimpfung wörtlich. Bei Siegfrieds Totenmarsch starrt in Patrice Chéreaus Götterdämmerung vorwurfsvoll der Chor ins Bayreuther Publikum hinunter: Ihr seid schuld! Oder aber Christine Mieltitz reckt in Zemlinskys König Kandaules klassenkämpferisch den Zeigefinger gegen das Salzburger Festspielpublikum. Wie provokativ und neckisch! Wie mutig und revolutionär!

Bei Regiefuzzi Sebastian Baumgarten wiederum mutiert das Beisl am Endes des Rosenkavaliers zu einem Swinger-Club. Welch beziehungsreiche Idee!

Ich lasse Harry Kupfer in Bayreuth den ganzen Lohengrin zum Traum Sentas veröden oder den wie ein Wikingerbaby aussehenden Ostbürger an Berlins unfreiwillig komischer Oper Carmen als Proletariermädel in Lederjacke auftreten und von der Partitur nur noch die Highlights übrig. Pech wenn Kapellmeister Rolf Reuter trotzdem eine schmissige und eingängige Interpretation der Partitur abliefert. Trotz Mauer war es leichter, Bewohner aus der DDR zu vertreiben als Abonnenten aus der Komischen Oper. Als Übergipfelung des real existierenden Unfugs verlege ich mit Hilfe willfähriger Bühnenverbildner und Kostümverschneider überhaupt Opern in die Zeit ihrer Entstehung. An solch wirkungsvollen Kurzschlüssen seien hier nur zwei genannt: Der international als Jahrhundertschwachsinn anerkannte Ring in der Inszenierung des theater- und insbesondere opernfremden Franzosen Patrice Chéreau, den ich musikalisch durch eine furztrockene Interpretation des prätentiösen Pierre Boulez begleiten lasse, und, noch wirkungsvoller widersinnig, ein in den Jugendstil verwiesenen Rosenkavalier, mit dem Ossidiva Ruth Berghaus die populäre Komödie ihres theresianischen Milieus und damit des Sinns und Zusammenhangs beraubt, in dem allein sie funktioniert.

Wo der legendäre Hans Neuenfels in seiner legendären Aida die Titelheldin endlich einmal zutreffend als Putzfrau in Ägypten dargestellt hat. Nur durch die Kriegsversehrten, die im Triumphmarsch mitmarschieren, konnte endlich eine Dialektik zwischen Bühne und Orchester erreicht werden und Kapellmeister Michael Gielen den Marsch so richtig aufdrehen.

Oder ich hole mir – wohlwissend, dass ein Tierarzt kein Humanmediziner ist – Filmregisseure herbei, um in meinem Opernhaus kurzfristige Aufmerksamkeitserfolge zu feiern. (Habe ich die Dilettanten vom Film einmal drin, folgen die Banausen vom Fernsehen auf dem Fuße. Auf die europäische Gesellschaft folgte schließlich ja auch die ungebildete Schickeria des TV-Zeitalters.) Ich weiß sehr wohl, nicht jeder Filmfritze ist ein Franco Zeffirelli, nicht jeder Fernsehfuzzi ein Luchino Visconti. Dafür lasse ich Doris Dörrie schon einmal die Turandot vor dem U-Bahn-Plan von Bejing abspielen; Ort die Handlung ist ja schließlich das alte Peking. Wie raffiniert!

All das flüstere ich meinem Opernwilligen auf seiner Fahrt zum Theater ins Ohr, hoffend, dass er in letzter Minute doch noch abdreht.

Vierte Maßnahme

Bei unserem deutschen Staat der allseits subventionierten Oper inkl. des österreichischen Operettenstaates handelt es sich in der Tat um den freiesten Staat, den es je auf deutschem Boden gegeben hat; vor allem frei von Werktreue. Dafür wird der erhobene Zeigefinger des Deutungstheaters gereckt; wobei sich die Frage stellt: Warum überlässt das Theater dem Zuschauer die Deutung nicht selbst? Es trägt denselben ja auch nicht ins Theater, (wenn auch in München die Eintrittskarte zur kostenlosen Trittbrettfahrerei bei Bussen und Bahnen berechtigt). Wenn dem Zuschauer bei der Aufführung selbst noch nicht das Kotzen gekommen sein sollte, dann spätestens nach dem Opernbesuch bei dem schmierigen Auskennertum der Musikkritiken in den einschlägigen Blättern. Sollte es unserem Opernfanatiker gelingen, mich und meinen Abriss der modernen Musiktheaterregie vor Beginn der Vorstellung abzuschütteln, brauche ich noch nicht die Flinte ins Korn zu werfen. Eine wirkungsvolle Methode, um Verwirrung zu stiften, ist eine möglichst missverständliche Benamsung meines Theaters. In Salzburg beispielsweise gibt es bereits zwei Mozarthäuser und zwei Mozarteen, nicht gerechnet diverse Cafés und Kaschemmen dieses Namens. Indem ich das Kleine Festspielhaus in »Haus für Mozart« umtaufe, stelle ich den, zumal ausländischen, Besucher vor ein unlösbares Rätsel, dem er kaum auf die Spur kommen wird, jedenfalls nicht bis Vorstellungsbeginn.

Fünfte Maßnahme

Sollte es unserem Querulanten dennoch gelingen, rechtzeitig im Theater aufzukreuzen, ist meine Schlacht immer noch nicht verloren. Es bleibt mir noch, ihn durch abstoßende Hässlichkeit des Foyers dazu zu bewegen, zurückzuprallen. Nun mache ich nicht den verhängnisvollen Fehler der Wiener Staatsoper, das alte Foyer originalgetreu wieder aufzubauen und damit Besucher aus aller Welt anzuziehen wie das Fliegenpapier die Fliegen. Vielmehr tue ich so, als wolle ich das klassische Foyer rekonstruieren, baue aber, wie beispielsweise in München, ein Foyer, das trotz stolzer Krönung durch Büsten Wagners und Straussens wie die Eingangshalle der Dresdner Bank wirkt. Auch auf den Gängen der Staatsoper wird im grauem Teppichboden jede Stimmung erstickt. In Hamburg und Charlottenburg ist das ganze Opernhaus im Original-Brutalismus errichtet, und in Frankfurt befinden wir uns in einem mit Blechbüchsen ausgehängten Aquarium, das von außen einsehbar ist. Und sollte irgendwo noch ein Original-Foyer stehengeblieben sein, rümple ich dieses mit postmodernen Mätzchen voll. Hier wendet sich der Gast mit Grausen!

Sechste Maßnahme

Sollte der Zuschauer indes das Foyer durchschritten haben wie Tamino die Feuer- und Wasserprüfung, sollte er einfach durch nichts von seinem Wunsch nach Oper abzubringen sein, ziehe ich meine stärkste Waffe aus dem ausgefransten Ärmel: Ich überantworte die geselligste, gesellschaftlichste Kunstform der Geschichte einer sterilen Asozialität, die jedem Besucher das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Die Oper, die sich zunächst als höfisches Unterhaltungstheater herausbildete und bald wachsender Beliebtheit in allen Schichten erfreute, deren Parkett und übereinandergeschichtete Logen weit mehr als das alte Amphitheater ein Abbild der Gesellschaft boten, die sich zum sozialen Zentrum einer Stadt und oft des ganzen Landes aufschwang, widme ich zu einer Art Museum um, das man nur steif und beklommen betreten kann und aus dem man ebenso wieder herauskommt. Entscheidend ist, jedwedes fröhliche Treiben, wie es etwa noch im achtzehnten Jahrhundert im Opernhaus geherrscht hat, zu unterbinden. Dafür hat mir Richard Wagner bereits unschätzbare Vorarbeit geleistet. Er löste die Logen auf und führte die Gleichschaltung via Amphitheater ein. Das freilich bedeutete nicht etwa, dass er den sozialen Austausch, die Dispute und Feste des griechischen Theaters wieder aufleben lassen wollte. Im Gegenteil: Indem er die Idee aufbrachte, während der Vorstellung im Zuschauerraum das Licht zu löschen, bedeutete er dem Publikum, was es zu sein hat: stumm. Genau das erwarte ich als Opernverweser, pardon: -intendant auch von meinem Publikum. Es hat weihevolle Stille zu beachten, nicht nur während, sondern auch vor und nach der Vorstellung, und mein gedrucktes Propagandamaterial zu konsumieren.

Entscheidende Mitspieler bei meinem Versuch, gesellschaftliches Leben im Opernhaus zu ersticken und immer mehr Menschen von demselben fernzuhalten, sind die Sponsoren. Denn diese schicken nicht nur ihr Geld, sondern auch ihre leitenden Angestellten. Kein schöneres Symbol für die Art und Weise, wie sich das moderne Wirtschaftsmilieu in das alte Kulturmilieu hineinfrisst, ist die überdimensionale Rolex-Uhr, die in der Winterreitschule in Salzburg über allen Köpfen prangt, und die an diesen Ort passt wie die Faust aufs Auge. Angehörige des Bildungsbürgertums, der Intelligenz, jeder Form von Elite, der Gesellschaft, der Oberen Mittelschicht oder Oberschicht, des wissenschaftlich oder philosophisch neugierigen Nachwuchses sind hier unerwünscht. Ich will meinen Zuschauer als folgsamen Allesschlucker, der vor allem in der Pause seinen Sekt schlucken will und sich unheimlich cool dabei vorkommt, die »moderne« Inszenierung eines für ihn langweiligen Klassikers gesehen zu haben.

Und während die millionenschweren Anteilseigner und Inverstoren zu Fuß zum Opernhaus kommen, müssen die bei ihnen angestellten Manager samt Gattinnen die paar Meter von der Blauen Gans und dem Goldenen Hirschen in der Limousine zum Festspielhaus gekarrt werden. Mit dem Ausstieg aus dem Wagen und Eintritt ins Festspielhaus ist für diese Personengruppe die Aufführung im Grunde beendet. Sie haben ihre katharsis gehabt. Zu ihrem Leidwesen müssen sie jetzt noch bei einer stundenlangen Oper stillsitzen. Das kommt besonders die Damen hart an, wie man an dem von Stunde zu Stunde lauter werdenden Scharren und Getrappel ihrer Pumps hört. In weiser Voraussicht wurde das Salzburger Festspielhaus mit Teppichboden ausgelegt, welcher jedoch leider nicht auch alle Laute von Sängern und Orchestern aufschluckt. Es ist ein Fehler, wie bei den Salzburger Festspielen, die Mitarbeiter der Sponsorenfirmen während der Pause in eigenen Logen aufzufangen, um ihnen zu ersparen, sich mit kultivierten Leuten unterhalten zu müssen und vor allem ihre Gesellschaft den Musikfreunden zu ersparen. Sollen sie doch alle zusammenströmen, und jede Partei sagt nachher: Nie wieder!

Siebte Maßnahme

Sollte mein vielfach abgeschreckter Kandidat auf seinem Hindernislauf bis in den Zuschauerraum gelangen, heißt das zum Glück noch nicht, dass er bis Vorstellungsbeginn bleibt. Hier setzen meine wohlüberlegten Maßnahmen ein, den von mir gern leer gesehenen Zuschauerraum auch leer zu erhalten bzw. schnell wieder zu leeren. Ich gestalte ihn dermaßen abschreckend, dass des Bleibens des Zuschauers nicht lange ist. Was früher etwa das Kleine Festspielhaus in Salzburg war, und was sich heute, bewusst irreführend, »Haus für Mozart« nennt, gestalte ich als Haus gegen Mozart; in diesem Fall als Gemeindesaal mit hohen Holzleisten in allen Sitzreihen. Wäre ja noch schöner, wenn der Frevler sich hier wohlfühlte. »So abfällig, wie sich Mozart gegenüber Salzburg geäußert hat, kann man nur annehmen, dass die ganzen Festspiele die heimliche Rache der Stadt Salzburg an ihren großen Sohn, der sie nicht geliebt hat, darstellt«, schreibt ein profunder Mozart-Kenner und jahrzehntelanger Festspielbesucher. »Schon das Haus für Mozart ist eine kolossale Beleidigung.«

Achte Maßnahme

Wenn unser Ignorant tatsächlich so hartherzig sein sollte, bis zum Vorstellungsbeginn in einem Zuschauerraum auszuharren, der ausschließlich dazu konzipiert ist, ihn abzuschrecken, bleiben mir trotzdem mannigfaltige Möglichkeiten, ihn noch während der Ouvertüre aus dem Haus zu jagen. Ouvertüren und Vorspiele sind eigens geschrieben, um den Zuschauer aus seinem Alltag zu holen und ihm einen Moment der Besinnung zu gönnen, auf den die Opernhandlung folgt, die während der Ouvertüre musikalisch schon angedeutet wird. Eben diese Besinnung gönne ich ihm nicht, sondern springe ihn vom ersten Takt der Ouvertüre, idealerweise noch vorher, mit meiner Bühnenhandlung an. Er erschrickt erwartungsgemäß, aus akustischen Gründen sogar mehrfach: Sind Ouvertüren und Vorspiele im Hinblick auf einen geschlossenen Vorhang geschrieben und entsprechend akustisch konzipiert, entflieht der Klang nun in den offenen Bühnenraum; an Unorten wie dem »Haus für Mozart« genannten evangelischen Gemeindesaal zumal wird er von Anfang an der schlechten Akustik inne; hier hört man nur im hinteren Drittel des Parketts und im ersten Rang gut, und jeweils nur in der Mitte.

Neunte Maßnahme

Mehr Licht! hat Operndirektor Goethe bekanntlich gefordert. Konfrontiere ich den Zuschauer statt mit einer sparsam und effektvoll beleuchteten Bühne mit einer monoton überbelichteten, wie etwa im Wiener Schreckensparsifal oder im öden Lear in München, habe ich die Chance, dass er schon vor Vorstellungsende die Segel streicht. Merke: Je unterbelichteter der Bühnenbildner, desto überbelichteter die Bühne.

Zehnte Maßnahme

Gefährliche Gegner meiner selbstlosen und idealistischen Bemühungen, das Opernhaus leerzukriegen, sind werktreue oder konzertante Aufführungen. Diese gilt es unter allen Umständen zu unterbinden. Schon Reisen des Zuschauers ins europäische Ausland gefährden mein Anliegen, da er in London, Warschau, Moskau oder Sarajewo sehen kann, wie herrlich werktreue Oper ist, und wie leicht zu verwirklichen. Dagegen gehe ich am besten vor, indem ich diese Erzeugnisse als provinziell und hinterwäldlerisch schmähe und mit Aufführungen in Altenburg, Gera, Regensburg usw. vergleiche, denn auch unsere Provinztheater unterstehen sich bekanntlich, in ihren Produktionen den Absichten des Autors und Komponisten zu folgen. Konzertante Aufführungen hingegen finden leider immer wieder auch an den großen Häusern statt; dort besteht die Gefahr, dass der Zuhörer seinen Kopf mit werktreuen inneren Bildern ausstattet und danach nicht mehr zu meiner murxistischen Interpretation zurückkehren will. Besonders gefährlich ist für mich natürlich auch die immer wieder in der Öffentlichkeit erhobene Forderung, die Subvention einer Opernproduktion von der Werktreue abhängig zu machen.

Elfte Maßnahme

Seit den frühen Tagen des Theaters, mithin seit etwa viertausend Jahren, bilden Teilnahme, Identifikation, Erschütterung und innere Reinigung die Reise, die der Zuschauer im Laufe des Stückes durchlaufen soll. Aristoteles hat den Vorgang in den Begriffen sympatheia und katharsis zusammengefasst. Um aber den Zuschauer vom Besuch des Theaters abzuschrecken, stelle ich Aristoteles auf den Kopf und mache die Oper zum Ort der Komplex- und Traumabewältigung nicht etwa des Zuschauers, sondern des Regisseurs.

Da es sich bei Komponistinnen und Komponisten, KomponistInnen, Komponist:innen und Komponist*innen, kurz: TonsetzerInnnen und –setzern um Tote Weiße Männer handelt, die, wie etwa Monteverdi, Gluck, Mozart, Wagner, Verdi und Puccini, vom Theater nicht den blassesten Schimmer hatten, kann man ihre Besetzungswünsche, Gesangsvorschriften und Regieanweisungen getrost in den Orkus befördern; ja, man sollte es sogar.

Krieg gegen Musik und Theater: das ist meine »gesellschaftliche Relevanz«. Meinen Erfolg sieht man daran, wenn sich Reihen lichten. Welch ein Triumph, wenn die Türlschnapper gar während der Vorstellung tätig werden und fliehende Zuschauer hinauslassen müssen!

Endlich habe ich die wohltuende Leere eines vor sich hinträumenden Opernhauses erzielt!

Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.

Ein Gedanke zu „Pro Kino: Wie kriege ich mein Opernhaus leer?“

  1. Bühne frei – für Stephan Reimertz!

    Was ging mir als erstes durch den gut vorgeheizten Schädel nach der Lektüre des herrlichen Textes? Worte des alten Chansons von Georg Kreisler: Wie schön wäre Wien ohne Wiener! Ob nicht der konzertanten Aufführung von Opern die Zukunft gehören sollte – ohne all den selbstdarstellerischen Krempel überforderter, ichsüchtiger Dramaturgen und Intendanten samt allen -innen? Muß man nicht manchmal die Leere denken, das Verschwinden, das Nichts (– und kann dann allerdings rasch bei komplexeren Fragestellungen enden: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts, in Heideggers Formulierung)?! Aber das hieße ja, das Tun der vertreibenden Agenten gutzuheißen, sie zu unterstützen und in falschem Gehorsam dem Publikum das aufzuhalsen, was kluger Intendanz Aufgabe wäre.

    Der Text Stephan Reimertz’ ist eine wunderbare Metapher: er läßt sich mühelos auf die Museums-, Literatur- und Wissenschaftslandschaft „in diesem unserem Lande“ übertragen. Die Phänomene, die er für die versuchte Opernentleerung (klingt ja schon ein wenig nach Diarrhö) auflistet, sieht man in gar manchen Sparten und Erscheinungsformen des Kulturbetriebs auch. Niemals ist das Publikum für die Institution da – umgekehrt! Und wenn Kritik das zu scharf für die angespannten Nerven der begnadeten Künstler, Regisseure und Ballettmeister formuliert, drohen unter Umständen sehr unappetitliche Gegenreaktionen.
    Es ist m. E. richtig, wichtig und psychohygienisch notwendig, wenn immer wieder solch ein Blick – durchaus im Zorn und Eifer – durch so klare, scharfe und unkorrumpierbare Gläser wie die eines Stephan Reimertz auf die Phänomene geworfen wird.

    Rating: 5.00/5. From 1 vote.
    Please wait...

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert