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Neues vom alten Hexenmeister

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Kann man die Aufsätze des neuen Essaybandes Interventions 2020 von Michel Houellebecq als Kommentare zu seinen Romanen lesen? fragt Stephan Reimertz in seiner Rezension, und: Ist das Buch um seiner selbst willen interessant genug oder allein im Hinblick auf die Romane bzw. die Persönlichkeit des Autors? Während vor einiger Zeit sein neuer Roman Anéantir erschien, beschäftigen wir uns hier mit den intellektuellen Grundlagen des Autors.

Vor einiger Zeit erschien in Frankreich Interventions 2020, eine Aufsatzsammlung von Michel Houellebecq. Bei diesen Abhandlungen über gesellschaftliche und politische Themen handelt es sich um eine weitläufig ergänzte Neuausgabe von Interventions, 1998 bei Flammarion herausgekommen, sowie Interventions 2 von 2009. Wir finden nun 45% der Texte in dieser dritten Ausgabe erstmals in Buchform: Artikel, Interviews, Vorworte und Dialoge, die zunächst in französischen und internationalen Periodica veröffentlicht waren. Was hat der Schriftsteller in den letzten Jahren publiziert? Sein Roman Sérotonine von 2019 kam manchem Leser als Leerlauf vor, und man fragte sich: Macht er sich einen Spaß daraus? Zeigt er, er kann schreiben, was er will, die Leut kaufen’s doch? Schon die Anfang 2017 bei L’Herne erschienene Broschüre mit dem etwas prätentiösen Titel En présence de Schopenhauer brachte deutsche Leser in Verlegenheit – stellen Sie sich ein schwarz eingeschlagenes Reclamheft, innen mit blauer Schrift vor – ; allzu bunt konnten sie sich ausmalen, was Schopenhauer, ihr strenger Zuchtmeister, zu so einem Stalker gesagt haben würde, wenn er schon nicht die Anwesenheit seines Herausgebers Arthur Hübscher in seinem Grab wehren konnte. Das Schopenhauerheftchen zeigte den von sich selbst eingenommenen Michel Houellebecq als passionierten Pädagogen und Erklärer, der weiß, wie er sein Publikum bei der Stange hält. Diese schriftstellerische Fertigkeit zeigt sich auch in dem neuen 450 Seiten starken, wiederum bei Flammarion erschienenen Essayband. Es handelt sich hier oft um kunstvoll geschriebene Feuilletons, die gelegentlich ins Erzählerische ausufern, etwa in der Erinnerung an Momente während der Pariser Unruhen vom Mai 1968; Houellebecq war zehn Jahre alt. Er kann sich aus der Beschreibung oder Analyse ins Poetische steigern oder in die philosophische Betrachtung. Im Zentrum steht bei diesem soziologisch inspirierten Schriftsteller die Gesellschaft.

Der Schriftsteller als Prophet?

Soumission, 2015 im selben Verlag erschienen, beschreibt den Regierungsantritt eines gemäßigt muselmanischen Präsidenten in Frankreich. Bei Erscheinen wurde das Buch als Dystopie gelesen. Heute, um einige politische Erfahrungen reicher, wird man den Roman eher als Utopie empfinden. Aufmerksame Leser freilich bezeichnen Plateforme von 2001 als Houellebecqs besten Roman. Nun lernen wir in der umfangreichen Aufsatzsammlung den Romancier als Essayisten kennen. Bereits im Juli 1992, also zwei Jahre vor seinem Durchbruch mit dem Roman-Essay Extension de la domaine de la lutte, gibt er in den Lettres françaises den gelangweilten Intellektuellen, dem alles zuviel ist, vor allem Jacques Prévert, dessen Aufnahme in die Klassikersammlung Pléiade Houellebecq die Gelegenheit verschafft, darzutun, wie ihn kein französischer Klassiker weniger hinter dem Ofen hervorzulocken vermag. Wir haben hier den blaguierten Gestus, ein paar Jahre bevor der Autor damit berühmt wurde. Der von allem angewiderte Stil ist schon da, der seine Wirkung damit erzielt, alles, was der Nation heilig ist, wortreich abzutun. Die Masche kam an und sollte bald zum Markenzeichen werden. Die hohe Klassizität und das Kulturgefühl der französischen Literatur der Generation davor, man denke an Michel Tournier oder den Grafen d’Ormesson, sind die Vorgabe, von der Houellebecq oder Frédéric Beigbeder sich in Gestus und Sprache möglichst deutlich abheben wollten, wenn sie dabei auch sehr unterschiedliche Wege einschlugen. Beabsichtigt ist eine radikale Sprach- und Medienkritik im Zeitalter der Marktwirtschaft. Beigbeders Roman 99 F zerlegt den Jargon der Industriepropaganda, Houellebecq taucht in die Melancholie des von Wirtschaft und Medien vorgeformten und entleerten Begehrens ein.

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Cover: Flammarion

Soziologischer Unterhaltungsschriftsteller der neomarxistischen Schule

In erzählerischen Form leisten diese Autoren, was in Deutschland neomarxistische Theoretiker wie Wolfgang Fritz Haug unternehmen, man denke nur an dessen Standardwerk Kritik der Warenästhetik. Manches klingt wörtlich nach Haug, wenn etwa Houellebecq von « construire les rayonnage de l’hypermarché social » schreibt, worin das simple Programm der zeitgenössischen Architektur bestehe, und aus der er sogleich eine Ökonomie des Sexus ableitet, die in ihrer Nüchternheit provokativ klingen soll und sein Markenzeichen werden wird. Die pennälerhafte Blague hingegen, mit der der Autor die Lieblinge des französischen Bürgertums und der Intellektuellen durch den Kakao zieht, ist nicht allzu originell. Er tat, als schlachte er Heilige Kühe, in Wirklichkeit molk er sie. Diesen Autor als Systemkritiker oder Lowbrow-Marxisten einzuordnen, scheint bereits zu hoch gegriffen. Michel Houellebecq ist vor allem ein soziologischer Unterhaltungsschriftsteller.

Die Philosophie des Romanciers

Auch erleben wir hier Houellbecq avant Houellebecq: Natürlich kann der Mann schreiben. Der Sechsunddreißigjährige schreibt sozio-ökonomische Analysen über moderne Architektur, sehr viel passionierter als in seinen Kunstabhandlungen in dem Roman La carte et le territoire, für den er Jahre später den Prix Goncourt erhalten sollte. In diesem Roman wirkt es so, als habe der Autor viele Amazon-Produktbeschreibungen im Copy-and-Paste-System hineinkopiert. Der Band mit allerlei Texten ist durchaus um seiner selbst willen lesenswert, auch wenn man von Houellebecq und seinen Romane nie gehört hat. Es bietet zugleich eine interessante Sättigungsbeilage für den, der die literarischen Werke und ihren Autor kennt. In einem Interview von 1995 bereits skizziert der Autor seine pessimistische Weltsicht ebenso wie seinen humanistischen Standpunkt:  « Les sociétés animales et humaines mettent en place différents systèmes die différenciation hiérarchique, que peuvent être basés sur la naissance (système aristocratique), la fortune, la beauté, la force physique, l’intelligence, le talent… Tous ces systèmes me paraissent d’ailleurs à peu près également méprisables ; je les refuse ; le seule supériorité que je reconnaisse, c’est la bonté. » Als Verkürzung freilich erscheint die Folgerung, die der Autor daraus zieht: « Actuellement nous nous déplaçons dans un système à deux dimensions : l’attractivité érotique et l’argent. »

Der soziale Dichter

Gibt es noch einen Autor, der soziologische Abschattierungen so poetisch abzustufen vermag? « Ces gens vivent dans une région où le nombre de nuances de vert s’éteignent », schreibt Houellebecq etwa über eine etwas dünnblütige Gesellschaft an einer Kunstschule. Es ist eher seine Ungeduld beim Organisieren größerer Romanstrukturen, sein ödipaler Provokationswahn, der dem Leser auf die Nerven fällt. Die Feinbeobachtung allerdings ist mitunter scharf eingestellt, das beweist dieser umfangreiche und vielgestalte Essayband aufs Neue. Allerdings hat Frankreich nicht wenige Intellektuelle, die ihre verstreuten Aufsätze zu einem solchen oder gar einem bedeutenderen Buch zusammenstellen könnten, die jedoch niemals einen Verlag oder bestenfalls einen Nischenverlag dafür finden würden. Es scheint völlig klar, dass dieser Band ausschließlich aufgrund des Erfolges von Houellebecq als Romancier angeboten wird. Die Logik der Publizität ist etwas anderes als die Logik der Qualität. Diese freilich kann man Interventions 2020 nicht absprechen. In den jüngeren Essays wie etwa Donald Trump est un bon président von 2019 ist es gerade der Ruhm des Autors, der ihn in die Situation versetzt, Gedanken außerhalb des Mainstream überhaupt zu formulieren. Jemand anders dürfte dergleichen kaum veröffentlichen.

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