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Arm und sexy“: Ausstellung in der Alten Münze macht Kultur der 90er Jahre lebendig

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Von Stefan Pieper.

Laut waren sie, die wilden 90er. Wer die Ausstellungsräume in der Alten Münze betritt, bei dem geraten die Zwerchfelle in Vibrationen. Bässe wummern, wie sie einst in verlassenen Industriebauten von Revolution und Aufbruch kündeten. Die 1990er Jahre stehen für Befreiung, Neuaufbruch, Hedonismus, Party ohne Ende. Wer „damals“ auf der Straße des 17.Juni auf der Straße tanzte, dem stehen spätestens dann die Nackenhaare hoch, wenn verzückte Gesichter der tanzenden Menschenmassen über die Großbildleinwand flimmern oder die legendären Menschenknäuel hoch oben auf den Laternenmasten.

Trotzdem liegt falsch, wer in den bild- und klanggewaltigen Animationen der Ausstellung „90s Berlin“ nur die einmalige Glorifizierung von „damals“ vermutet. Dafür wird viel zu sehr eine differenzierende Gesamtschau betrieben – vor allem lassen die Macher hier sehr unmittelbar die Quellen sprechen. Deren Präsentation trägt die Handschrift des bewährten Konzept in der Alten Münze: Man konterkariert mit einer großformatigen multivisionären Inszenierung jede dröge Vorstellung von „Museum“.

Kreisrund laufen die Filmproduktionen, das es fast schwindelig macht, was die Zuschauenden umkreist: Die Mauer fällt. D-Mark-Noten fallen vom Himmel, wie nur wenig später die bunten Flyer, die auf zahllose, meist illegale Partys verweisen. Leerstehende Bauten werden besetzt, von den Kreativen im Sturm erobert. Berlin wird „zu einer einzigen Bühne“ für die freie Szene, für widerständiges Theater, bizarre Performance und eine explodierende Underground-Musikszene. Das Kunsthaus Tacheles mit seinem aufragenden sowjetischen MIG-Jäger war lange Jahre wohl der nach außen sichtbarste Symbolort für kreative wilde Freiheit. Der Tresorraum im Keller eines alten Bankhauses gab einem Technoclub seinen Namen, der heute noch überlebt hat – während viele andere Locations längst wieder Geschichte sind, wo Bürokratie und Finanzkapital letztlich doch am längeren Hebel sitzen, wo die einstige blühende Alternativkultur auf breiter Front zum kommerziell ausgeschlachteten Mythos mutiert ist.

 

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Foto © Stefan Pieper

 

Jenseits der grellen (Sub-) Kultur der 1990er finden aber auch die zeithistorischen Voraussetzungen ihr Abbild: Das Sitzpodest in der Mitte wird von einem neonbeschienen Korridor durchschnitten. Schwarzweißfotografien dokumentieren den einstigen Todesstreifen und damit eine ungeahnte lebensfeindliche Tristesse, hinter der sich bis zum November 1989 eine riesige Portion Lebenshunger aufgestaut hatte. Noch bedrückender ist das riesige Spalier von Kalaschnikows, welches in einem Hinterraum an die (hier namentlich genannten) Mauertoten erinnert.

„90s Berlin“ verzichtet auf kluge Erklärungstafeln und weitschweifige Erläuterungen. Lediglich eine Handy-App liefert knappe Infos zu den Exponaten. Ob es an der kurzen, gerade mal halbjährlichen Vorbereitungszeit lag, dass hier eben nicht zu viel zerdiskutiert und überpädagogisiert wird? Dieser Appell an die eigene Assoziationskraft tut gut.

Das setzt sich in einem weiteren Raum fort, wo auf großen Video-Screens Zeitzeugen zu Wort kommen, die kurz vor der Ausstellung noch interviewt wurden. Ein einstiger Aktivist der Hausbesetzer-Szene berichtet, wie organisiert der zivile Ungehorsam damals ablief. Politiker wie Gregor Gysi sahen gewaltige soziale Spannungen voraus, während von anderen die blühenden Landschaften besungen wurden. DJ-Westbam hält dagegen, dass die Hauptenergie von den Menschen aus dem Osten kam. Wo sich heute die künstlerische Avantgarde in verborgene Nischen zurückzieht, gab man sich Anfang der 1990er nicht damit zufrieden. Die Künstlerin Danielle de Piciotto redet über den frühen Wunsch, aus den Kellerlöchern herauszukommen – heraus kam die Loveparade als Demonstration eines neuen Lebensgefühls. Die Sache kippte, als gegen Ende des Jahrzehnts die Publikumszahlen die Millionengrenze überschritten. „Du kannst nicht das große Statement der 90er machen, ohne in die Charts zu kommen“ beschreibt DJ Westbam die logische Entwicklung, von der heute ja auch viele, (nicht nur Westbam selbst) gut profitieren. Ohne Tresor damals kein Berghain heute.

 

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Foto © Stefan Pieper

 

All dies zeugt von großer Leidenschaft der Ausstellungsmacher für die Kultur dieser Zeit. Der aufmerksame Besucher kann nur ein Fazit ziehen: Die weltweite Anziehungskraft Berlins wäre ohne den anarchischen Nährboden nach 1989 undenkbar. Viele Errungenschaften aus dieser Zeit sind heute bedroht, wo die ungezügelte Macht des Geldes und ein wieder unfreier werdender Zeitgeist jenen charmanten „arm, aber sexy“-Zustand in der Hauptstadt latent bedrohen. Aber viele Protagonisten sind ja selbst auch nicht mehr arm und sexy, wie der Clubbetreiber und Fotograf Ben de Biel in seinem Interview-Statement augenzwinkernd anmerkt…

nineties Berlin
Ausstellung noch bis 28. Februar 2019

Alte Münze
Molkenmarkt 2
10179 Berlin

Öffnungszeiten
täglich von 10 – 20 uhr

12,50 € /  8,50 €

 

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