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Musik, Krieg und Frieden in Europa 1922-2022

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Feuilletonscout Das Kulturmagazin für Entdecker Musik

Von Izidor Mendas.

Draußen tobte ein heftiger Gewittersturm. Die mutigen Konzertbesucher des Arnold Schönberg Centers am Wiener Schwarzenbergplatz wurden an jenem Abend dennoch mit einem wunderbaren und sinnreichen Konzerterlebnis belohnt. Der Auftritt des Orchestre Les Métamorphoses aus Frankreich unter der Leitung von Olivier Holt fand im Rahmen des internationalen Projektes „Musik, Krieg & Frieden in Europa 1922-2022“ statt, kofinanziert von der Europäischen Union. Das Projekt richtet sich gegen Gewalt, Krieg und Rassismus, gedenkt Opfer der Totalitarismen sowie des Antisemitismus, und setzt sich für Frieden, Einheit und Freiheit mittels Musik als universelle Sprache ein. Nach dem Überfall der Ukraine ist diese Botschaft aktueller denn je.

Die Mitglieder des 2018 gegründeten Orchestre Les Métamorphoses überzeugten mit künstlerischer Vielseitigkeit und unbestreitbaren solistischen Qualitäten: ein Beweis dafür, dass man einen homogenen Klangkörper durch starke zeitrelevante Inhalte noch besser zum Vorschein bringen kann. Eine angenehme Frische wehte durch die Interpretationen des relativ jung besetzten Ensembles, begleitet von Eifer, hoher technischer Präzision und ausgereifter Klangkultur.

Dass man einen attraktiven Konzertabend mit den Komponisten der Wiener Moderne, die die musikalische Landschaft zu Beginn des 20. Jahrhundert revolutioniert haben, ihren Schülern und Wegbegleitern gestalten kann, ist schon an sich eine große Leistung. Das anspruchsvolle Programm ohne Pause beinhaltete neben Schönberg und Schrecker auch weniger bekannte Komponisten wie Karl Amadeus Hartmann und Stefan Wolpe. All diese Namen hatten jedoch einen gemeinsamen Nenner: Anton Webern, den Meister der Zwölftontechnik und musikalischer Destillierung, der entweder als Mitstreiter, Arrangeur oder Mentor mit den aufgeführten Komponisten in Berührung kam. Diese Anwesenheit durch Abwesenheit wäre ganz im Sinne seiner musikalischen Gedankenwelt.

Zum Konzertauftakt erklang Der Wind von Franz Schrecker (1878-1934). Die am 2. März 1909 im Wiener Raimund Theater uraufgeführte Komposition wurde eigentlich als Begleitmusik zur Ballett-Pantomime auf eine Prosavorlage von Grete Wiesenthal konzipiert. Impressionistische Klangfarben à la Ravel mischten sich mit der Üppigkeit der Wiener Spätromantik. Bei dieser organischen tonmalerischen Darstellung des Windes fühlte sich das französische Ensemble offensichtlich wie zu Hause, wobei das delikate Klavierspiel und der Klarinettist besondere Erwähnung verdienen. Die Musiker entführten uns in eine träumerische Landschaft und nur selten fühlten sich Wien und Paris in einem Musikstück so eng zusammengerückt. Das Unwetter draußen war damit nur noch eine ferne Erinnerung.

Karl Amadeus Hartmanns (1905-1963) Burleske Musik (1931) setzt sich aus Miniaturen zusammen, die mit ihren grotesken Elementen der Welt der „Neuen Sachlichkeit“ nahestehen. Der Einfluss von Jazz, Klezmer oder Märschen in Zweiertakt ist unüberhörbar. Wenn man nach einem musikalischen Pendant zu den Gemälden von Otto Dix oder George Grosz sucht, wäre Burleske Musik eine passende Antwort. Ein bisschen wie Strawinsky, aber doch ganz anders. Wegen ihrer Vitalität und wegen des großartigen Blechbläsereinsatzes war diese Komposition wahrscheinlich die größte Überraschung des Abends. Gleichzeitig handelte es sich um eine Würdigung an einen deutschen Komponisten, der vor allem für seine klar ablehnende Haltung gegen den Nationalsozialismus bekannt war, dessen Werke aber trotz großer Originalität selten in den Konzertsälen zu hören sind. Ungeachtet einiger Unsicherheiten, beim Cello oder bei der Trompete zum Beispiel, saß das Ensemble während der Aufführung fest im Sattel.

Darauf folgte das Konzert für neun Instrumente op. 22 von Stefan Wolpe (1902-1972). Das Stück ist keine leichte Kost, weder für das Publikum noch für die Interpreten. Obwohl Wolpe einige Monate im Jahr 1933 mit Anton Webern verbracht hat, hat er von seinem Lehrer offensichtlich nicht den Minimalismus oder die Knappheit des musikalischen Ausdrucks übernommen. Für ungeübte Ohren gibt die viersätzige Struktur zwar einen gewissen Rückhalt, das Stück bleibt aber trotzdem eine halbstündige Herausforderung. Das „jüdische Geigenspiel“ im ersten Satz erlaubt dem Zuhörer noch einen Einblick in die turbulente Lebensgeschichte Wolpes, der über Palästina schließlich in den USA seine Zuflucht fand, wie aber das „Lied ohne Worte“ im dritten Satz zu interpretieren ist, lässt sich nicht so leicht erschließen. Der Schlusssatz in Variationsform erklang aussagekräftig, obwohl sich die Müdigkeit auf dem Podium und im Publikum schon spürbar gemacht hat.

Da alle Kompositionen des Abends für Kammerbesetzungen geschrieben wurden, stellt sich natürlich die Frage, warum man dafür eigentlich einen Dirigenten braucht. Die Antwort liegt in der Komplexität der aufgeführten Werke. Olivier Holt, der für den erkrankten künstlerischen Leiter des Orchesters Amaury du Closel eingesprungen hat, meisterte die Partituren mit elektrisierender Bravour und Hingabe. Auch bei Wolpe gab er sein Bestes, um das Stück der Zuhörerschaft näherzubringen.

Zum Finale erklang noch Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 op. 9 (entstanden 1905-6) in Bearbeitung für Violine, Flöte, Klarinette, Cello und Klavier von Anton Webern. Das Werk bezeichnete Schönberg selbst als einen Wendepunkt in seinem Schaffen, bevor es endgültig in Richtung Atonalität ging. Trotz Unterteilung in fünf Abschnitte besteht das Stück aus einem einzigen homogenen Satz von ununterbrochener Bewegung und thematischer Einheit. Verdichtete Struktur, komplexe Harmonik und freier Umgang mit Tonalität dieses Meisterwerks wurden von den Musikern klar und enthusiastisch dargestellt, und zwar durch ein exemplarisches Zusammenspiel, dem es nie an der lyrischen Intensität mangelte.

Im Großen und Ganzen ein überaus gelungener Konzertauftritt. Die unzähligen Verwandlungen (Metamorphosen) dieser musikalischen Reise voller Entdeckungslust werden uns in guter Erinnerung bleiben und wir können es kaum erwarten, das Orchestre Les Métamorphoses wieder in Wien begrüßen zu dürfen.

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