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München feiert „Figaros Hochzeit“

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Der aufgeklärt neobarocke Klang unter Kapellmeister Stefano Montanari und die poetisch präzise Inszenierung Evgeny Titovs gehen an der Staatsoper München eine vielversprechende Verbindung ein. Annemarie Woods überzeugt mit vieldeutigen, erfrischenden Kostümen und hintergründigem Bühnenbild. Und Avery Amereau verleiht Cherubino eine neue Stimme. Von Stephan Reimertz.

Ziemlich flott und von Anfang an aufgedreht springt der Kapellmeister mit dem Bayerischen Staatsorchester in eine der meistgespielten Ouvertüren der Opernliteratur. Stefano Montanari gibt gleich zur Begrüßung seine Visitenkarte als gelernter Barockgeiger und Konzertmeister der Accademia Bizantina in Ravenna ab. Mit seiner ganz aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert her gedachten Mozartauffassung nimmt der Musiker, der an der Staatsoper bereits »Entführung« und »Agrippina« dirigiert hat, an der derzeitigen Neuentdeckung des Komponisten teil, die allein mit der Münchner Mozartrenaissance unter Bruno Walter in den 1920er-Jahren an eben diesem Hause verglichen werden kann.

In der Folge von Pionieren wie Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner oder dem Pianisten Arthur Schoonderwoerd versuchen historisch-kritisch arbeitende Musiker wie René Jacobs, Thomas Guggeis oder Kristian Bezuidenhout, den dicken, verstaubten Vorhang, den das neunzehnte Jahrhundert, aber auch neoromantische Künstler des zwanzigsten wie Karl Böhm und vor allem Herbert von Karajan zwischen heutigen Hörern und die Musik des Dixhuitième gehängt haben, immer weiter zur Seite zu schieben. Dabei ist jedem klar, dass ein authentischer Originalklang ebenso wenig zu haben ist wie die biographische Wahrheit. In den letzten Jahren ist eine erneute Diskussion um die Fragen der Aufführungspraxis entbrannt. Mit seinem aufgedrehten neobarocken Figaro leistet unser energetischer Mr. Aufziehvogel hierzu einen Beitrag.

Modernes Barock

Allein seine aufwendige Barockmaschine schnurrt mitnichten automatisch ab: Stefano Montanari zeigt sich in jedem Moment als gewiefter Musikdramatiker und bietet dieser berühmtesten aller Komödien einen phantastisch-elastischen Rahmen, mag er im einzeln auch übers Ziel hinausschießen. Was letztlich zählt, sind Charme, Präzision und Lebendigkeit, und diese bietet die neue Produktion in Fülle. Wie schon zur Entstehungszeit des Stücks üblich, bedient der Kapellmeister zugleich das Tasteninstrument und akkompagniert die Rezitative. Tatsächlich zeigt sich das Clavicembalo-Replica als die erstaunlichste, freieste, modernste Stimme im neuen Gesamtkunstwerk. Wie zur Mozartzeit kommentiert das Tasteninstrument Musik und Handlung nach Gusto des Augenblicks. Und auch hier erweist sich die Stärke der ganzen Produktion im Maßhalten. Anders als bei vergleichbaren Produktionen von René Jacobs – man denke nur an seine Salzburger »Entführung« von 2018 – versinkt das Ganze nicht in einem musikalischen Comic-Strip, sondern zeigt seine Wirkungsmächtigkeit auch hier in vorbildlicher Disziplin.

Endlich einmal keine pseudopolitische Schmiere!

Die irische Kostüm- und Bühnenbildnerin Annemarie Woods liefert mit der Ausstellung für diesen Figaro ihre erste Arbeit an der Bayerischen Staatsoper ab. Ihre Ausstattung ist, wenn man so will, nicht im Maßstab 1 : 1 gedacht, sondern bezieht auf subtile Weise die Zeitlichkeit mit ein. Ihre künstlich verödeten Räume und Accessoires streift ein Hauch von gothic. Was wir sehen, sind weniger die alten Räume selbst, sondern unser durch manche nachrevolutionäre Verteufelung und schrägen Chic hervorgegangenes Bild jener Epoche. Im Zentrum steht eine Art beweglicher Zahnarztsessel – der erste in München seit Brigitte Fassbaenders Inszenierung von Gaetano Donizettis Meisterwerk »Don Pasquale« am Gärtnerplatz – als ein Symbol des leergeräumten Thronsessels. Hier freilich werden Accessoires vorgezeigt, die man Kindern besser ersparen sollte, denn »Figaros Hochzeit« wird traditionell auch vom Nachwuchs besucht. Wenn man geschmacklos sein will, dann bitte geschmackvoll! Auch in der kalkulierten Geschmacklosigkeit könnte man eine gewisse Geschmackssicherheit an den Tag legen. Die Bühnenbildnerin Woods ist zugleich Kostümbildnerin, und hier entfaltet sie eine Frische, einen Abwechslungsreichtum, der ästhetisch ansprechend ist und sich nicht in den üblichen pseudopolitischen Gags erschöpft, wie wir sie sonst auf der Bühne sehen müssen.

Dank an das Spitzenensemble

Huw Montague Rendall, Absolvent des Royal College of Music London, ist ein guter Sänger von sanftem und entfaltungsmächtigem Bariton, allein als Graf Almaviva ist er eine Fehlbesetzung. Das hat nicht Randall, sondern das Besetzungsbüro zu verantworten. Trotz des Titels der Oper ist Graf Almaviva die Hauptperson. Das Stück handelt vom Machtverlust des alten Adels, und Almaviva ist hier die sich ihrer Brüchigkeit innewerdende Gallionsfigur. Rendall ist zu jung, wirkt in seiner Erscheinung zu jugendlich und ungebrochen, als dass Drama und Komödie der schwindenden patriarchalen Macht des Hochadels hier verständlich werden könnten. Die Figur, die er spielt, ist eine Type des heutigen modernen Lebens konsumorientierter Berufsjugendlicher.

Elsa Dreisig, dänisch-französischer Herkunft, in Frankreich aufgewachsene Absolventin des Pariser Konservatoriums, gibt uns eine Gräfin, die in dieser Inszenierung stimmlich und von der Erscheinung her viel zu sehr Louise Adler gleicht, die uns hier als Susanna gleichfalls mit elfenbeinern leuchtendem Sopran in musikalisch genussvolle, dramaturgisch aber schwierige Passagen katapultiert. Konstantin Krimmel aus Ulm, rumänisch-deutscher Abkunft, gibt einen Figaro, der mit überragender Erscheinung und bei aller stimmlichen Stärke auffälliger Textverständlichkeit dem historischen Gehalt seiner Figur am nächsten kommt. Dem zu sich selbst findenden Bürgertum am Ende des Ancien Régime verleiht Krimmel mit seinem charakterstarken Figaro eine durchschlagenden Stimme.

Als Marcellina besticht Dorothea Röschmann aus Flensburg. Sie sang am Royal Opera House in London die Gräfin und bezaubert uns nun auch in München mit einem klassischen Sopran in all seinen mitschwingenden körperlichen und kulturellen Implikationen. Sie vermochte viel von dem Charisma zu vermitteln, die zu dieser Ausnahmeoper gehört. Sir Willard White aus Kingston Town besticht schon auf den ersten Blick durch seine signorile und auffällige Erscheinung und vermochte mit seinem charaktervollen Bassbariton den Bartolo, die vermeintliche Nebenrolle, auf die Augenhöhe der Hauptfiguren zu heben. Der Kärntner Thomas Ebenstein verfügt über ein geradezu trompetenhaftes Strahlen seiner Tenorstimme und entsprechend gab er dem Basilio eine starke und überzeugende Gestalt ein. Die Norwegerin Eirin Rognerud kommunizierte mit ihrer glasklaren Sopranstimme als Barberina jene Rührung und Erschütterung, die seit Aristoteles als die Quintessenz der Theaterpoetik betrachtet werden.

Neu im Ensemble der Staatsoper ist die gebürtige US-Amerikanerin Avery Amereau, Absolventin der Julliard School. In der Hosenrolle des in alle Frauen im Schloss verliebten Jünglings Cherubino gab sie einen ungewohnt tief-abgerundeten, geradezu gurrenden Ton ein und steht für die Zukunft unter Mezzo-Verdacht. Wir freuen uns darauf, von ihr noch viel zu hören.

Weitere Aufführungen 2024 hier

Bayerische Staatsoper
Max-Joseph-Platz 2
80539 München

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Munich celebrates „Figaro’s Wedding“
The neo-baroque splendor under conductor Stefano Montanari and the artistically staged performance by Evgeny Titov form a promising alliance at the State Opera. Annemarie Woods impresses with multifaceted, refreshing costumes and thoughtful stage design. Avery Amereau’s portrayal of Cherubino brings a new voice to the character.

Conductor Montanari energetically leads the Bavarian State Orchestra, showcasing himself as a skilled baroque violinist with roots in the Accademia Bizantina. His interpretation of Mozart, influenced by the 17th and 18th centuries, contributes to the current rediscovery of the composer, comparable to the Munich Mozart renaissance under Bruno Walter. Amid discussions on performance practices in recent years, Montanari makes a contribution with his neo-baroque Figaro.

Despite its complexity, Montanari adeptly controls the baroque machine, presenting it as a musical masterpiece while maintaining restraint. The use of the Clavicembalo Replica as a commenting element proves to be refreshingly modern. In contrast to similar productions by René Jacobs, this staging preserves its effectiveness through exemplary discipline rather than descending into a musical comic strip.

Costume and set designer Annemarie Woods presents a refreshing and aesthetically pleasing ensemble that distinguishes itself from typical pseudo-political gags. However, the portrayal of Count Almaviva by Huw Montague Rendall, despite his vocal qualities, introduces an inappropriate youthful note. Elsa Dreisig as the Countess bears too strong a resemblance to Louise Adler, while Konstantin Krimmel as Figaro convinces with a strong presence and textual clarity. Dorothea Röschmann impresses as Marcellina, Sir Willard White elevates the supposed supporting role of Bartolo, and Thomas Ebenstein gives a powerful portrayal of Basilio. Avery Amereau as Cherubino introduces an unusual, deep-rounded tonal quality and is regarded as promising for the future.

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