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Mehr als „Mysteries“: Sabine Weyer spielt Miaskovsky und Bacri

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Feuilletonscout Das Kulturmagazin für Entdecker MusikSpätromantisch sowjetisch und zeitgenössisch französisch – künstlerisch geschwisterlich zugewandte Komponistenseelen. Rezension von Ingobert Waltenberger.

Auf der einen Seite einer der höchstdekorierten und am wenigsten im Westen bekannten sowjetischen Komponisten, auf der anderen Seite ein französischer Tonsetzer, der radikal mit einem institutionellen Avantgardismus brach, der jede Tonalität, jede Harmonie, jede Melodie verbietet. Der Offizier Nikolai Miaskovsky, ein enger Freund Prokofievs, durchlief drei spannende Schaffensphasen und schrieb u.a. 9 Klaviersonaten, 13 Streichquartette und 27 Symphonien. Nicolas Bacri wiederum ließ sich von Komponisten wie Ravel, Roussel, Honegger, Dutilleux, Shostakovich oder Weinberg inspirieren. Er fand sich damit in einer ähnlichen ästhetischen Klangfamilie, wie der u.a. von Skriabin, Rachmaninoff oder Stravinsky stilistisch geprägte Miaskovsky.

Beim Hören der vier einsätzigen Sonaten (Klaviersonate Nr. 2 in f-Moll Op. 13 N.M; Sonate Nr. 2 Op. 105 N.B., Sonate Nr. 3 c-Moll Op. 19 N.M. und Sonate Nr. 3 „Sonata Impetuosa“ Op. 122 aus 2011 N.B.) entsteht der Eindruck, als handle es sich um die vier Sätze einer einzigen großen übergeordneten Komposition.

Die Luxemburger Pianistin Sabine Weyer hat nicht nur ein kluges, sondern auch ein spektakulär virtuos interpretiertes Programm zusammengestellt. Es macht wieder einmal die immense Bedeutung des frühen 20. Jahrhunderts für die Musik des gesamten Säkulums greifbar. Die einzelnen Schulen/Richtungen amalgamieren sich bei Miaskovsky als auch Bacri zu einem jeweils unverwechselbaren und dennoch miteinander schlüssig verkoppelten Sound. Ein kriegerisch brutalster und technologisch in Lichtgeschwindigkeit sich formender Abschnitt der Menschheitsgeschichte wird gefärbt durch höchstpersönliche Erfahrungen von großen Meistern auf Basis komplexer Kompositionstechniken in unverwechselbaren Klangpanoramen konkretisiert.

Mögen sich in den Einsätzern auch traditionelle Sonatenformen und Muster verbergen, so dominieren der experimentelle Charakter, eine verwirrende harmonische und chromatische Unübersichtlichkeit, Verfremdungseffekte volksmusikalischer Vorlagen mit romantischen Einsprengseln – wie Erinnerungen an eine andere Welt – die hier aufgenommene Musik.

Wie so oft in der Musik des 20. Jahrhunderts bilden bei Miaskovsky traumatische Erlebnisse aufgrund politischer Ereignisse den ‚Generalbass‘ an vielfältigen, heftig schwankenden Stimmungen. Miaskovsky war im ersten Weltkrieg an vorderster Front eingerückt. Was er da gesehen und erfahren hat, hetzte ihn für den Rest seines Lebens. Bacri wiederum hatte sein Initiationserlebnis Miaskovsky betreffend mit der Aufnahme der 21. Symphonie mit dem Chicago Symphonie Orchestra unter Morton Gould. Die dritte Klaviersonate faszinierte Bacri in ihrer schillernd post-skriabinischen Tradition. Anm.: Scriabin pflegte ab 1907 mit seiner innovativen fünften Klaviersonate ebenfalls die einsätzige Form.

Was den Hörer sofort anspringt und in Bann hält, ist der Reichtum an Möglichkeiten, die inneren, rasch sich abwechselnden und bisweilen sich in wiederkehrenden Kreisen drehenden Seelenaggregate mit fiebernder musikalischer Substanz auszukosten. Das gilt für den älteren Miaskovsky genauso wie den 80 Jahre später geborenen Bacri.

Nach den vier Sonaten sind von Miaskovsky noch die sechs „Excentricities“ Op. 25 und von Bacri die „Fantaisie“ Op. 134 zu hören. Leichte kühlende Desserts nach den üppigen Hauptgängen.

Sabine Weyer vermag die in den Partituren klangdestillierten Emotionen wie Wut, Schmerz, Schwermut, schwarze Leidenschaften, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, aber auch idyllische Einkehr, Besänftigung, zarte Melancholie, anrührende Demut oder phantastische Erscheinungen mit ihrer stupenden Anschlagskultur, einer traumwandlerischen Musikalität und farblich fein abgestuften Tongebung gleichermaßen intensiv erlebbar zu machen. Da breitet sich nirgends Akademismus aus. Miaskovsky ist zuerst Bacri und dann der Pianistin als Wunder auch für uns Publikum ins Nest geflogen.

Überwältigende Entdeckungen, blitzgescheite Querverweise, ein überbordend leidenschaftliches Klavierspiel. Was für eine selten überzeugende Kombination. Nur der doch ziemlich banale Allerweltstitel der CD kann da nicht mithalten.

Sabine Weyer
Mysteries
Miaskovsky / Bacri
ARS Produktion
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