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Playing by Heart: Baltic Sea Philharmonic und Olgar Scheps in der Elbphilharmonie

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Feuilletonscout Das Kulturmagazin für Entdecker Musik

Nutcracker reloaded: Das Baltic Sea Philharmonic kombinierte in Hamburgs Elbphilharmonie Tschaikowskys Nussknacker-Suite mit Griegs a-Moll Klavierkonzert. Das ganze Orchester musiziert komplett auswendig. Von Stefan Pieper.

Auswendig musizieren heißt auf englisch „playing by heart“. Das Baltic Sea Philharmonic mit seinem Leiter Kristjan Järvi in seiner Mitte und einer überragenden Olga Scheps als Klaviersolistin (Interview im Feuilletonscout hier) lieferte die logische Erklärung dafür und wurde schließlich in Hamburgs Elbphilharmonie frenetisch dafür gefeiert. Komplett auswendig musizierte das junge Orchester einen kreativ zusammengestellten Mix aus Tschaikowskys Nussknacker-Suite, Edvard Griegs a-Moll-Klavierkonzert, einigen Stücken von Arvo Pärt und von Kristjan Järvi selbst.

Baltic Sea Philharmonic, Elbphilharmonie Hamburg (c) Bernd Possardt

Befreiung aus erstarrten Konventionen

Zu Anfang ist die Bühne dunkel bis auf farbiges Hintergrundlicht. Ein stationärer Ton weitet sich zur süßlichen Harmonie, als immer mehr Musikerinnen und Musiker spielend auf die Bühne schreiten. „Ascending Swan“ hat Kristian Järvi dieses selbst komponierte Intro betitelt, um hier eine Verbindung zwischen Orchester, Aufführungsraum und Publikum zu erzeugen. Spot an für die Zelebration von befreiter musikalischer Bewegung auf der Bühne! Und willkommen im Wunderland des sagenhaften Nussknacker-Märchens! Hatte nicht gerade jemand diese Komposition noch auf eine Top 10 der am meisten „kaputtgespielten“ Stücke gesetzt? Wie sich jetzt diese Musikerinnen und Musiker im Durchschnittsalter von Ende 20 in einen tänzerischen Flow stürzen, wie märchenhaft-exotisches Flair cool und lässig von allen Klischees befreit wird, vor allem aber, wie hier Menschen aus sich selbst heraus befreit interagieren, zeigt dies: Die Meisterwerke der Musikgeschichte können selbst am allerwenigsten etwas für ihre festgefahrenen Konnotationen und starre Aufführungsriten.

Der Konzertfotograf Bernd Possardt hat einen Moment festgehalten, der perfekt die Essenz dieses Abends umfasst: Eine Flötistin und eine Geigerin „duellieren“ sich, umspielen einander, fordern sich gegenseitig heraus. Kristjan Järvi feuert sie weiter an. Alle haben Spaß. Wer gerade solistisch dran ist, darf nach vorne, wie in einer Jazzband beim Solo. Dass sich (fast) alle frei bewegen und laufend ihre Positionen ändern, gibt auch der Klangmischung eine frische Dynamik.

Olga Scheps und das Baltic Sea Philharmonic, Elbphilharmonie Hamburg (c) Bernd Possardt

Olga Scheps ist ein pianistisches Phänomen

„Ich fand es anfangs etwas irritierend, dass verschiedene Instrumente immer aus unterschiedlichen Richtungen kommen, aber ich möchte diese spannende Erfahrung nicht missen“ kommentierte Olga Scheps hinterher im Backstage-Talk nach dem Konzert. Aber das Abenteuer gelingt: Mitten in Tschaikowskys grellbunten Taumel stürzt Griegs a-Moll-Klavierkonzert hinein – es bestürzt schon fast, wie Olgar Scheps auf Anhieb voll da ist und alles an sich reißt. Aber so unangestrengt und überlegen, dass auch dies ein absolutes Phänomen ist. Und ja: Die dunkle Wucht dieses nordisch-schwermütigen Klavierkonzerts und seiner überirdisch-überlegenen Interpretation durch Olga Scheps wirkt noch erschütternder, wo sich die einzelnen Sätze an verschiedenen Stellen wie in einer raffiniert programmierten Playlist aus dem Mix erheben.

Tschaikowskys Nussknacker wurde wegen seines arabischen Tanzes von einem Berliner Theater aufgrund vermeintlicher „Aneignungen“ aus dem Programm genommen. Aber statt woker Verkrampftheit praktiziert das Baltic Sea Philharmonic einen generösen Sound von Toleranz. Lässig nimmt ein Rahmentrommler am Bühnenrand Platz, drei Klarinettistinnen tun es ihm gleich auf der anderen Seite. Klassik zu etwas machen, was heutiger, junger Lebenswelt entspricht, darum geht es. Auf der Bühne ist die Verjüngung ja längst vollzogen. Das Durchschnittsalter im Baltic Sea Philharmonic zwischen 20 und Anfang 30 ist ja auch in vielen anderen Profiorchestern eher die Regel als die Ausnahme.

Baltic Sea Philharmonic, Elbphilharmonie Hamburg (c) Bernd Possardt

Endlose Ovationen und eine Zugabe, die rockte

Das Publikum war schließlich von dieser Lebendigkeit bis zur letzten Nervenzelle erobert. Dieser Mix aus pompösen Marschrhythmen, Walzer-Flow, weihnachtlichem Orchesterglanz inklusive funkelnder Celesta und treibenden Scherzo-Passagen mündete schließlich nahtlos in ein Meer aus stehenden Ovationen. Dann gehört die Bühne nochmal Olga Scheps. Jetzt rockt sie den Finalsatz von Prokofjews siebter Klaviersonate – und wie! Ihre Art, wie sie in tiefen Registern die Klänge fast zu Clustern ballt, in dieser Wucht aber noch jeder einzelne Ton glasklar differenziert, scheint in diesem Moment nicht mehr von dieser Welt. Kristjan Järvis Baltic Sea Philharmonic dürfte eines der weltweit bislang einzigen Orchester sein, das abendfüllende sinfonische Werke komplett ohne Noten aufführt – und auch aufnimmt! Denn das Fehlen von Notenpulten wirkt sich nicht nur optisch und atmosphärisch, sondern auch hörbar aus. Ja, der gesamte Sound wirkt weicher, die Interaktion flexibler, beweglicher. Klassik ist hier nicht mehr länger museales Schwergewicht, sondern Neustart. Vor etwas mehr als vier Jahren hat das Baltic Sea zum ersten Mal ein Werk komplett auswendig musiziert. Mittlerweile ist dies zum Alleinstellungsmerkmal geworden. Das alles fällt nicht vom Himmel, auch wenn es sich in der Elbphilharmonie an diesem Abend so anhörte. Die dahinter stehende Disziplin beim „Lernen der Stücke“ muss – bei allem Freiheits-Appeal nach außen – gewaltig sein! Komfortzone geht anders…

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