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Meine Lieben daheim! Briefe aus Paris 1940–1944

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Am 27. August 1940 kam Gertrud Woltmann als Nachrichtenhelferin nach Paris. Die junge Pfarrerstochter aus Twistringen sollte vier Jahre in der französischen Hauptstadt bleiben. Was sie in dieser Zeit erlebte, ist in unzähligen Briefen festgehalten.

2012 übergab die Familie Meyberg ein einmaliges Konvolut von 462 Briefen, sieben Taschenkalendern, einem Tagebuch sowie zahlreichen Presseartikeln, Theater- und Konzertprogrammen, Zeitschriften, Broschüren und zwei Schallplatten an die „Museumsstiftung Post und Telekommunikation“ des Museums für Kommunikation in Berlin.
Es waren Aufzeichnungen, in denen Gertrud Woltmann, geborene Meyberg, ihre Zeit als Nachrichtenhelferin während der deutschen Besatzung in Paris festhielt. Damit überragt sie sogar Ernst Jünger, der – im Gegensatz zu der jungen Deutschen – mit Unterbrechungen in den Jahren von 1941 bis 1944 als Offizier in Paris eingesetzt war, vornehmlich in Kreisen der höheren Gesellschaft und Intellektuellen verkehrte und seine Tagebücher noch einmal gründlich überarbeitete, bevor er sie publizierte.

„Meine Lieben daheim“… mit diesen Worten beginnen viele der Briefe von Gertrud Woltmann an ihre Eltern. Mit ihrer Auswahl an Briefen zeichnen die Historikerin Corinna von List und Dorothea Garcia-Cerro ein so noch nie dagewesenes Porträt einer jungen Frau, die in den dunklen Jahren des Zweiten Weltkriegs täglich an ihre Eltern schreibt – und den Lesern einmalige Einblicke in ihren Alltag als Deutsche im von Deutschen besetzen Paris gewährt.

Barbara Hoppe sprach mit Corinna von List.

Literatur

Feuilletonscout: Die Briefe, die man in „Meine Lieben daheim“ liest, waren eher ein Zufallsfund, oder?
Corinna von List: Ja, es war ein Zufallsfund. Ich recherchierte im Archiv der „Museumsstiftung Post und Telekommunikation“ in Berlin nach Briefen von deutschen Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich eingesetzt waren. Wie so häufig fand ich nur wenige Nachlässe. Ich staunte dann nicht schlecht, als am Ende ein Konvolut übrig blieb, das im Umfang jeden mir bis dahin bekannten Rahmen sprengte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur vereinzelt Feldpostbriefe aus Frankreich ausfindig machen können. Jetzt hielt ich die Briefe von Gertrud Meyberg, die damals noch Gertrud Woltmann hieß, einer Pfarrerstochter aus Twistringen in den Händen.

Feuilletonscout: Was war dein erster Gedanke, als du das Konvolut vor dir hattest?
Corinna von List: Unglaublich! Hunderte von Briefen, die den gesamten Zeitraum der deutschen Besatzung von Paris während des Zweiten Weltkrieges abdecken.  Dazu noch von einer jungen Frau, einer Nachrichtenhelferin. Von dieser Personengruppe gibt es dato kaum so umfangreiche persönliche Aufzeichnungen. Der erste Gedanke meiner Mitherausgeberin Dorothea war übrigens ein ganz anderer: „Oh, ob ich all die vielen Briefe entziffern und transkribieren kann?“

Feuilletonscout: War damals schon die Idee da, aus den Briefen ein Buch zu machen?
Corinna von List: Erst nachdem die Briefe und das Tagebuch transkribiert waren, erschloss sich uns, welchen Schatz wir in den Händen hielten: die Perspektive einer jungen Frau auf den Krieg und die deutsche Besatzung Frankreichs. Daraufhin entschlossen wir uns, die Briefe zu edieren und einen Verleger zu suchen.

Cover: Lukas Verlag

Feuilletonscout: Und als dann der Funke gezündet hatte – wie war der Arbeitsprozess?
Corinna von List: Wie schon erwähnt, war der erste Schritt die Transkription der in einer sehr eigenwilligen Sütterlin Handschrift geschriebenen Briefe, des Tagebuchs und der Taschenkalender. Dorothea hat sich dieser Herausforderung mit großer Geduld und Akribie gestellt. So konnten auch fast alle Namen und Ortsangaben entschlüsselt werden. Diese boten die ersten Anhaltspunkte, um die Briefe mittels Fachliteratur und weiterer Archiv-Recherchen in den historischen Kontext für die Leserinnen und Leser einzubetten.
Der andere wichtige Schritt bestand darin, den Kontakt zur Familie herzustellen. Wir wollten diese außergewöhnliche -damals sehr junge Frau- gerne persönlich kennenlernen. Ganz unkompliziert entstand der Kontakt zur Familie und wir trafen uns mit der damals über neunzigjährigen Gertrud Woltmann und ihrer Familie zu einem Gespräch in Osnabrück. Im Laufe des Treffens stellte sich heraus, dass es in der Familie außer den Briefen auch noch 500 Fotos aus Gertruds Pariser Zeit gab.

Feuilletonscout: Was macht die Briefe so besonders?
Corinna von List: Sie zeigen die persönliche Entwicklung einer jungen Frau in außergewöhnlich schweren und belastenden Zeiten. Die anfängliche jugendliche Unbekümmertheit Gertrud Woltmanns weicht der Reflexion über das Schicksal aller Menschen – nicht nur der Deutschen – angesichts des immer weiter um sich greifenden Krieges mit Leid und Tod. Die Briefe gewähren einen kontinuierlichen Einblick in das Alltagsleben der deutschen Besatzung in Paris. Sie waren weder für eine Veröffentlichung bestimmt, noch wurden sie im Nachhinein in irgendeiner Form bearbeitet. Das macht auch das Besondere an ihnen aus: Sie sind absolut authentisch.

Feuilletonscout: Mit was für einer Frau haben wir es zu tun? Wer war Gertrud Woltmann?
Corinna von List: Gertrud Woltmann war eine kulturell vielfach interessierte, sportliche, sehr junge Frau als sie 1940 in Paris eintraf. Sie hatte eine große Offenheit und Neugier gegenüber allen Menschen, die sie umgaben.  Das galt auch für Französinnen und Franzosen. Vom ersten Tag an lernte sie intensiv Französisch.
Sie war aber auch ein gefühlvoller junger Mensch mit offen Augen für die Kultur und die Natur. Sie liebte Musik und interessierte sich für moderne Komponisten wie Ravel, der in Nazi-Deutschland auf der schwarzen Liste stand. Als Mitglied des Chors der deutschen evangelischen Militärgemeinde machte sie auch selbst aktiv Musik. Mit diesem Chor trat sie wiederholt in Notre-Dame auf.
Man fragt sich natürlich, wie solch eine junge Frau durch einen so grausamen Krieg kommt. Dabei half ihr der familiärer Hintergrund. Sie entstammte einer norddeutschen Pfarrersfamilie, die ihren Glauben prägte. Ihr fester Glaube half ihr, auch schwerste Erschütterungen in ihrem Leben zu überstehen.
Kurz: sie richtete immer den Blick auf das Schöne und blieb offen für Neues – bis ins hohe Alter.

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Gertrud Woltmann auf einem Steg am See Saint-Point bei Malbuisson im französischen Jura,
Ende November 1941 © Privatarchiv Michael Meyberg

Feuilletonscout: Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass sie dort war?
Corinna von List: In dieser Zeit gab es für junge Menschen nur wenige Möglichkeiten, sich der allgegenwärtigen Vereinnahmung durch das NS-Regime zu entziehen.
Gertrud Woltmann hatte sich auf Anraten des Chefarztes des Krankenhauses Quakenbrück, wo sie ihre Ausbildung als DRK-Schwesternhelferin absolviert hat, als Nachrichtenhelferin gemeldet. Zu diesem Zeitpunkt galt das Militär in bürgerlich konservativen Kreisen noch als ein Hort patriotischer Werte und Gegengewicht zum NS-Regime. Die Aussicht als Nachrichtenhelferin ins Ausland gelangen zu können war sicherlich wie für die meisten jungen Menschen ebenfalls ein Motiv. Wer konnte damals schon ins Ausland fahren! Sie wurde im August 1940 nach Paris versetzt.

Feuilletonscout: Du konntest Gertrud Woltmann noch persönlich sprechen. Wie verlief das Gespräch?
Corinna von List: Das Gespräch mit ihr verlief sehr zugewandt. Wir führten es mit einer überaus wachen, klugen, herzlichen und trotz ihrer körperlichen Einschränkungen lebensfrohen Frau. Fast 80 Jahre nach den Ereignissen konnte sie noch Vieles zu ihren Briefen aus ihrer Pariser Zeit beisteuern. Besonders erwähnenswert ist ihre Erinnerung an den 20. Juli 1944 in Paris. Als das Attentat auf Hitler im Radio gemeldet wurde, rief eine mit ihr befreundete Nachrichtenhelferin aus: „Wo ist der Sekt?“ Dass das Attentat misslungen war, wusste man zu diesem Zeitpunkt in Paris noch nicht.

Feuilletonscout: Hattet ihr auch Kontakt zur Familie von Gertrud Woltmann bzw. hat sie euch bei euren Recherchen und der Aufbereitung der Briefe unterstützt?
Corinna von List: Gertrud Woltmanns Familie hat uns von Anfang an tatkräftig unterstützt, insbesondere durch die Digitalisierung der fast 500 Fotos und die Erstellung der Karten. Unverzichtbar war die Hilfe auch bei der Identifizierung der in den Briefen oftmals nur mit einem Vornamen genannten Personen.

Feuilletonscout: Braucht man viel Geschichtsverständnis, wenn man das Buch lesen möchte?
Corinna von List: Da die Briefe von Gertrud Woltmann direkt aus dem Geschehen heraus geschrieben sind und nicht nachträglich bearbeitet wurden, sollte man sich in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs schon ein bisschen auskennen.

Feuilletonscout: Für wen ist das Buch geeignet?
Corinna von List: Das Buch richtet sich an historisch interessierte Leserinnen und Leser, die erfahren wollen, wie eine junge Frau die Kriegsjahre erlebte, insbesondere in einer besetzen Stadt wie Paris – nahe am Geschehen und doch weit entfernt vom Elend und dem Grauen an der Ostfront.

Vielen Dank für das Gespräch, Corinna von List!

Meine Lieben daheim. Briefe aus Paris 1940–1944
hrsg. von Corinna von List und Dorothea Garcia-Cerro
Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2022
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