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Karoline Georges schreibt mit „Totalbeton“ eine nervenzerfetzende Dystopie

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LiteraturRezension von Barbara Hoppe.

Eine Dystopie wie die der franko-kanadische Autorin Karoline Georges zu lesen, braucht starke Nerven. Vor allem, wenn die Lektüre in eine Zeit fällt, die viele als dystopisch empfinden. Geboren 1970 in Montréal, erhielt die freischaffende Künstlerin zahlreichende Preise. Als sie 2011 „Sous béton“ schrieb, war Corona noch weit weg. Umso verstörender ist ihr kurzer Roman in diesen Tagen, an denen Gesundheit, Desinfektion, Abstandregeln und das Einhalten von Verboten allerorts die beherrschenden Themen sind. „Totalbeton“ heißt ihr Roman auf Deutsch, der bereits im vergangenen Herbst im Secession Verlag erschienen ist. Darüber zu schreiben ist fast so unmöglich wie am Ende auf die ersehnte Erlösung zu hoffen.

Es hilft zu wissen, dass sich Karoline Georges in ihrer Kunst vor allem für Erscheinungsformen des Virtuellen, für die Zukunft und ihre Möglichkeiten sowie das Verhältnis von Bewusstsein und Technologie interessiert. Eine abschließende Erklärung für „Totalbeton“ liefert es jedoch nicht.

Cover: secession Verlag

Aus der Sicht eines namenlosen Kindes schildert Karoline Georges eine klaustrophobische Welt, in der Menschen in einem riesigen Gebäude aus Beton – eben jenem Totalbeton – leben. Ohne frische Luft, ohne Fenster, ohne Natur, nur mit Nährstoffen und Abstumpfungsmitteln als Nahrungszufuhr und einer grauen Decke ausgestattet, lebt das Kind mit seinen Eltern in der Nummer 804, 5969. Etage. Den einzigen Blick in die Welt nach draußen ermöglichen Monitore. Sie zeigen Bilder der Ausgestoßenen, die sich um das Hochhaus drängen, zerfetzen, zerfleischen und massakrieren, um außerhalb der festen Hochhausstruktur zu überleben. Eine Struktur allerdings, die komplettes Ausgeliefertsein bedeutet. Das Kind wird vom gewalttätigen Vater unterdrückt, die Mutter resigniert. Die Gesundheitspolizei wacht über die Einhaltung von Hygienestandards und Abstandsregeln. Wer von den Vorschriften abweicht, wird ausgestoßen. Wer krank wird oder stirbt, ebenfalls.

Doch eines Tages geschieht etwas Seltsames mit dem Kind. Die Frage nach dem „Weshalb“ taucht auf. Es ist der Beginn einer beunruhigenden Reflexion. Es ist die Suche nach dem Riss im Beton. Mit dem Wunsch, wissen zu wollen entwickelt sich ein Bewusstsein. „Ich denke, also bin ich“ bahnt sich seinen Weg. Und doch scheint sich die physische Existenz des Kindes zu verflüchtigen, um klarer zu erkennen. Durch den Beton hindurch sieht das innere Auge des Kindes, wandelt durch die Etagen des immensen Bauwerks und macht erschreckende Entdeckungen. Wie ein Perpetuum Mobile ständig in Bewegung ist, speist sich das Haus im wahrsten Sinne des Wortes aus sich selbst heraus, bleibt roboterhaft in Bewegung, sei es durch Maschinen oder Menschen. Wer hat diesen Kosmos entwickelt? Und Warum? Wer profitiert davon? Welche Macht steht dahinter? Was ist wahr? Was ist Täuschung? Immer stärker drängt das Bewusstsein des Kindes nach Erkenntnis. Doch immer rätselhafter sind die Wege, die es findet, immer verstörender die Entdeckungen.

Karoline Georges liefert nur eine vage Erklärung dafür, was die Menschen in den Steinbunker trieb: Seine Hybris, seine allumfassende Vernichtung der Welt war offenbar der Auslöser für die Flucht in einen Bunker der totalitären Sinnleere.

Dieses beunruhigende Szenario packt den Leser von der ersten Minute. Es ist die Faszination von Grauen und Verstörung und der verzweifelte Versuch, Erklärungen zu finden, die dem Leser viel abverlangt. Hinzu kommt ein Unbehagen, das die Autorin 2011 nicht vorhersehen konnte: In Zeiten von Corona, Fake News, Demokratiemüdigkeit und der Überforderung vieler Menschen, mit der Komplexität der Welt zurecht zu kommen, sind schon heute vage Verhaltensmuster zu beobachten, die Karoline Georges in „Totalbeton“ radikal zur Normalität macht.

Einen Ausweg zeigt sie indes nicht. Stattdessen fordert ihr Wissen über Naturwissenschaften und Existenzphilosophie den Leser heraus, auch sprachlich. Je abstrakter das Denken des Kindes wird, umso mehr löst sich die sprachliche Struktur des Textes auf. Am Ende lesen wir Poesie und atmen auf. Denn wie das Kind seine physische Existenz verlässt und in eine neue Energieform übergeht, verlassen wir mit der Autorin feste Strukturen und müssen nicht mehr nach Erklärungen suchen.

Karoline Georges
Totalbeton
secession verlag, Zürich 2020
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