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Ein Festival der Aufbrüche

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Feuilletonscout Das Kulturmagazin für Entdecker Musik

Publikumsrekord beim Südtirol Jazzfestival Alto Adige. Von Stefan Pieper.

Das Südtirol Jazzfestival Alto Adige ist wie kein anderes Festival. Unvergleichlich ist die Mischung aus Konzerten von hochmotivierten, betont „authentisch“ agierenden Bands,  ihrem versunken lauschenden Publikum und einer anregenden Atmosphäre an vielen Spielorten nicht nur in der Südtiroler Provinzhauptstadt Bozen, sondern auch auf Berghütten, in alten Festungsanlagen und zahlreichen anderen ungewöhlichen Orten. Lohn für das ganze Engagement der zahllosen Bands und Musiker und ebenso des neuen Leitungsteams bestehend aus Max von Preetz, Roberto Tubaro und Stefan Festini: Schon am vorletzten Abend war klar, dass diese Festivalausgabe einen Publikumsrekord verzeichnen würde.

Trancezustände und Rituale haben es dem Ethnologen Stefan Festini Cucco, der zum neuen Leitungsteam des Südtirol Jazzfestival Alto Adige gehört, schon länger als Forschungsgegenstand angetan. Damit traf er den Nerv des Saxophonisten Lukas Kranzelbinder, der vor allem in Marokko die Gnawa-Kultur studierte und das Spiel auf der Guembri, dieser dreisaitigen Laute mit ihrem charakteristischen Sound erlernt hat. Was also lag näher, als hieraus ein Projekt für die aktuelle Festivalausgabe zu formen?

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Bobby Rausch / Foto: Stefan Pieper

Die Grundidee: Einer Musik, die sich möglichst häufig über Konventionen hinwegsetzt, stehen neue Formate, die stärker auf aktive Interaktion mit dem Publikum setzen, eigentlich nicht schlecht. Die praktische Umsetzung dieser Idee ging auf der Studiobühne des „Batzenhäusl“ wie folgt – und das über fünf Stunden lang: Lukas Kranzelbinder spielte verschiedene Bassinstrumente, unter anderem auch die Guembri in einer nie endenden repetitiven Schleife, was den roten Faden für die Improvisationen von mehreren Musikerinnen und Musikern bildete. Zum Beispiel für die exzentrische, französische Flötistin Delphine Joussein, der es verschärfte psychedelische Soundeffekte angetan haben, ebenso Johannes Schleiermacher auf dem Saxofon und den Schweizer Schlagzeuger Julian Sartorius. Hier lebt die hohe Kunst, Veränderungen wie in einem guten DJ Mix in Richtung dramaturgisch treffsicher zu dosieren, auf dass hypnotische Steigerung möglich wird. Eine Profitänzerin und ein Profitänzer gaben durch expressiven Körpereinsatz schließlich den Anschub, dass sich auch die letzten im Publikum aus dem Zustand domestizierter Bewegungslosigkeit befreiten. Ein Konzert als partizipatives Ritual. Stefano Festivi Cucco und Lukas Kranzelbinder fühlen sich gut motiviert, um dieses Format bei den kommenden Festivalausgaben noch weiter zu entwickeln.

Mabe Fratti / Foto: Stefan Pieper

In programmatisch-musikalischer Hinsicht gab es wieder Neuentdeckungen zuhauf: Die in Guatemala geborene und heute in Mexiko lebenden Sängerin und Cellistin Mabe Fratti hatte zuvor schon ein fragiles Solorecital im Garten eines Berghotels hoch oben über Bozen geliefert. Jetzt versetzte sie auf der großen Bühne ihr Publikum in eine andere Welt. Sie singt ihre Songs und spielt auf dem Cello, dass alles in jedem Moment emotional ans Eingemachte geht. Mit einer fabelhaften Band, die auch auf jeder großen Rockmusik-Bühne für ganz neue Farben sorgen würde.

Brechend voll wurde es am Pool im Park des Hotel Laurin, als der feingliedrige Klavierjazz des polnischenJoanna Duda Trios viel mehr als stylische Hintergrundbeschallung, dafür eine Menge kühner Abenteuerlust bietet. Lyrisch, empfindsam und assoziativ ging es im ebenso lauschigen Park des Mondschein-Hotels beim Auftritt der britisch-zentrierten Band „Let Spin“ zur Sache. Ruth Gollers erdig-präsentes E-Bass-Spiel hat seine Wurzeln im Punkrock- hier erwies sich dies als wunderbar anschlussfähig an die lyrischen Klangsphären vor allem des Gitarristen Moss Freed, um in dieser warmen Vorabendstimmung die Seele zu streicheln.

Als wildgewordene Tiere der Nacht gebärdeten sich die Musiker des österreichischen Trios „Edi Nulz“. Voller Humor und einer Dramaturgie wie aus rasch geschnittenen Comicstrips oder Gangsterfilmen und getragen von rotzigem Post Punk ließen es die drei spätnachts krachen. Der Trend geht überhaupt stark in rockige Richtungen. Aber eben so, dass auch improvisatorische Faszination ungebremst aufleuchten darf. So etwas ist Sache der deutschen Band „Bobby Rausch“. Statt krachiger Gitarren zeigen hier eine elektronisch aufgemotzte Bassklarinette und ein Baritonsaxofon, wo der Hammer hängt. Und ohne den groovend aufspielenden Drummer Nico Stallmann war hier alles nichts. Genau solche Rauschmittel braucht es, um die Nacht in der mediterran kultivierten Südtiroler Provinzhauptstadt zu feiern.

Dan Kinzelmann (sax), Glauco Benedetti (tuba) und Filippo Vignato (Trombone) / Foto: Stefan Pieper

Das Südtirol Alto Adige Jazz Festival macht nicht nur neue Bands und Talente entdeckbar, es weitet auch den Horizont für Reisende, in dem der Blick auf viele erstaunliche Locations und auch Bauwerke gerichtet wird. Wem ist nicht schon beim Befahren der Brennerautobahn diese monströse Befestigungsanlage aufgefallen, deren Name „Franzensfeste“ geografisch als Tor zu Südtirol gut bekannt ist? Unter dem Motto „Jazz at Fortress“ wurde dies nun in seiner ganzen Dimension erfahrbar und damit auch aus jeder musealen Erstarrung herausgeholt, weil kreative, versierte Musiker die gigantische Befestigungsanlage zum Klingen und damit zum Leben brachten. Dan Kinzelmann (sax), Glauco Benedetti (tuba) und Filippo Vignato (Trombone) pumpten ihre Schallwellen, Tonfolgen und Improvisationen durch die dunklen Kasematten. Getoppt wurde das ganze noch durch einen überragenden Freiluft-Auftritt des Sextetts „Ghost Horse“ mit seinen charismatischen, wie auch hoch differenzierten Jazzrock-Mixturen.

Und ja: Bei der ausgiebigen, musikalische „angeführten“ Begehung und schließlich noch bei einem heftig lauten Open-Air-Konzert macht die Fantasie dauernd Luftsprünge: Was könnte man in dieser verzweigten, heute von ganz viel friedlichem Grün überwuchertem Burg alles in kultureller Hinsicht verwirklichen? Das Südtirol Jazzfestival Alto Adige hat hier – wieder einmal! – einen Anfang gemacht.

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