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Christian Schulteisz: „Wense“. Der Zauber des Unruhegeists

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LiteraturRezension von Barbara Hoppe.

Hans Jürgen von der Wense, geboren am 10. November 1894 in Ortelsburg/Ostpreußen, gestorben am 9. November 1966 in Göttingen, war ein deutscher Schriftsteller, Übersetzer, Fotograf, Künstler und Komponist.

So weit, so Wikipedia. Aber dieser Wense war weit mehr als das, was hier in fünf Berufen zusammengefasst wurde. Er war ein Universalgelehrter, der 60.000 Nachlasseiten hinterließ, 40 Tagebücher, 258 Messtischblätter, 40 Kompositionen, 3000 Fotos und 3000 von 6000 Briefen. Er war Autodidakt, brachte sich die tollsten Sprachen bei, darunter Chinesisch, Arabisch, Dänisch, Sanskrit, Altirisch, Suaheli, Syrisch und Walisisch. Er beschäftigte sich mit altirischen, altisländischen und ägyptischen Studien, mit Horoskopen, mit Meteorologie, Geologie, Mineralogie, Astronomie und Astrologie, er übersetzte und komponierte und all das tat er wie er lebte: immer auf Wanderschaft, wechselte er den Wohnort 28 Mal. Den Nazis entkam er, weil er nicht zu finden war. Und so sprang er von einer Tätigkeit zur nächsten, ekstatisch, begeisterungsfähig, alles um sich herum vergessend und leider in seinen Erkenntnissen oft zu spät.

Cover: Berenberg Verlag

Fröhlich-melancholisch springt auch Christian Schulteisz mit seinem Helden durch den Kriegsherbst 1943. Wense lebt in Göttingen, sein geliebtes Kassel ist da schon den feindlichen Bomben anheimgefallen. Er muss Wettersonden eichen. Eine Tätigkeit, die dem forschenden Unruhegeist des Universalgelehrten gar nicht zusagt. Und so schlägt er auch in jeder freien Minute seine Purzelbäume durch die hessischen Wälder und das Weserbergland, durchforstet den Sternenhimmel und die Bibliothek, verliert sich in Diskussionen, denen keiner mehr folgen kann und albert „Über die weltweiten Ursprünge und Ableger der Troddel und über ihre mannigfachen Bedeutungen. Vom Behang der Schamanen und Könige zum Behang des schläfrigen Mannes.“

Diesem Tausendsassa – oder sollte man sagen: Taugenichts? – setzt Christian Schulteisz ein kleines, feines Denkmal. Schulteisz, Jahrgang 1985, war für seine Erzählung „Hunger auf Schienen“ 2017 für den Literaturpreis Open Mike nominiert. Er schrieb Hörspiele und dramatische Texte. Und nun diesen kurzen Roman, sein Debüt, über einen Mann, der heute vielleicht nicht bei jedermann vergessen ist, aber ganz gewiss nicht in aller Munde. Ganz sinnfrei ist dieser Text. Und deshalb so bezaubernd.

Christian Schulteisz
Wense
Berenberg Verlag, Berlin 2020
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