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Christian Gerhahers Lyrisches Tagebuch

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Literatur

Jeder möchte gern singen. Grund genug zu beachten, was ein genau analysierender Sänger zum Lied und dessen Vortrag zu sagen hat. Der Bariton Christian Gerhaher zeigt uns in seinem Lyrischen Tagebuch, worauf es Komponisten und Sängern in der Liedkunst ankommt. Von Stephan Reimertz.

Wenn man früher zum Arzt ging, stand man einer umfassend gebildeten Persönlichkeit gegenüber, mit der ein Gespräch über Nietzsche, Schumann und Goethe möglich war, und wo die Heilung aus der Betrachtung der Gesamtpersönlichkeit des Patienten erwuchs. Inzwischen hat der Techniker den Humanisten ersetzt: Im medizinischen Bereich und leider auch im künstlerischen. Für beide Gebiete ist es eine Katastrophe. Umso erfreulicher in Christian Gerhaher noch einen umfassend gebildeten, von der Kunst durchdrungenen Sänger vor sich zu haben. Ermutigt von Adalbert Stifter, besonders seine Mappe meines Urgroßvaters, wagt es Gerhaher, in seinen Reflexionen in ein anderes Zeitgefühl einzutreten. Seine besinnungsvolle Prosa verlangt vom Leser und vermittelt jene innere Ruhe, derer es bedarf, um ungescheut an das einzelne Lied herantreten und eine Interpretation beginnen zu können. Natürlich dient es auch rascher Vergegenwärtigung dank eines aufgeschlüsselten Registers.

Gesang auf neuem geistigen Niveau

Gerhaher gehört zu den Künstlern, über die wir an dieser Stelle oft und gern berichten: Ob es um seine Einspielung der Kindertotenlieder geht, seine Teilnahme am Mozartfest in Würzburg, Auftritte als Wozzek, Lear und Orfeo in München, oder als Don Giovanni in Frankfurt. Nun gilt es die Lektüre seines gerade im C. H. Beck Verlag erschienenen Lyrischen Tagebuchs. Der mit vielerlei Preisen ausgezeichnete Baritöner, der zuerst Medizin studierte, bekennt hier: »Nicht Selbstbezug und Selbstoptimierung, vielmehr die tägliche Arbeit der Bedeutungssuche ist Inhalt meines Berufes und Thema dieses ‚Tagebuchs’. Lyrisch heißt dieses Tagebuch, weil es sich vor allem mit dem Lyrischen, also mit Gedichten und ihren Vertonungen, beschäftigt.«

Beginnt dein Sohn zu baritönen…

Der Bariton ist in der deutschen Gesellschaft eine prekäre Gestalt. Wenn besorgte Eltern baritonische Neigungen bei ihrem Filius bemerken, versuchen sie meist, dessen Stimme angesichts vermeintlich besserer Verdienstmöglichkeiten in den Tenor hinaufzuquetschen. Für die kleine Gruppe von Mutigen, die im Bariton bleiben, bieten sich dann jedoch repräsentative Aufgaben: Staatstragend wie Dietrich Fischer-Dieskau, Bundesfrauenschwarm wie Fritz Wunderlich oder Klassenclown wie Walter Berry. Christian Gerhaher wiederum ist der Bariton der wissenschaftlichen Epoche, zugleich ganz und gar Künstler. Es sei nicht vergessen, wie sehr ein Sänger, wenn er sich nicht auf Konzertauftritte beschränkt, Schauspieler sein sollte, und zwar nach Möglichkeit ein guter. Man könnte sogar einen Schritt weiter gehen und den Sänger als den entscheidenden Schauspieler unserer Zeit betrachten, da sich das Sprechtheater in Deutschland von der Kunst verabschiedet hat und in den Nebeln der Ideologie und des Unartikulierten versunken ist.

Einspielung vs. Erläuterung

Was hat sich der Sänger bei seiner Interpretation eigentlich gedacht? Das erfährt man höchst selten. Man lernt es aber hier, in Gerhahers wertvollem Buch, und die Versuchung ist groß, parallel zu diesen Ausführungen seiner jeweiligen Einspielung zu lauschen. Nur ein Beispiel: Schumanns Liebesbotschaft aus dem Liederbuch eines Malers von Reinick eröffnet den Reigen der Lieder, bei denen Gerhaher uns einen Blick hinter die interpretatorischen Kulissen gönnt. Seine Interpretation mit Gerold Huber am Klavier besticht in der Tat mit größtmöglicher Sachlichkeit und Textverständlichkeit. Der eine oder andere Hörer mag sie als schleppend empfinden. Das Ätherische des Gedenkens an die Geliebte wie ihres Charakters selbst erhält so einen tragischen Unterton, und man fragt sich, ob die Gute bereits zu den Abgeschiedenen zählt. Eröffnet der Sänger dem Dichter hier eine Bedeutung seines Werkes, die diesem selbst entgangen ist? So sehr man Gerhaher als Bariton des postheroischen Zeitalters bezeichnen kann, so wenig geht ihm hier der Sinn für das Resignative ab. Tatsächlich eignet seiner legendären Interpretation etwas von Nachachtundvierziger-Düsternis. Nietzsches Äußerungen über Schumann, die der Autor ebenfalls ins Spiel bringt, sind nicht zuletzt im Zusammenhang des jeweiligen Standes seines Verhältnisses zu Wagner und zu Schopenhauer zu beurteilen. Das Tragische, welches durch die Sachlichkeit der Interpretation hätte verbannt werden können, kehrt in einer Art Verhemmung wieder wie in einem Traum, in dem man laufen möchte, aber von unsichtbaren Händen zurückgehalten wird. Es ist die Tragik des Bürgertums; im Innigst-Persönlichen offenbart sich hier gerade die Dimension des Politischen. Das ist ein schopenhauerischer Schumann, den wir hören. So sind die Ausführungen des Sängers zu seiner Liedinterpretation das eine, und was wir hören etwas anderes. Beides zusammen ergibt ein plastisches Bild. Dank des Lyrischen Tagebuchs eröffnet sich eine neue Dimension, da es nur wenigen Sängern gegeben ist, sich so differenziert zur eigenen Auffassung und Interpretation zu äußern.

Schumann entschlüsselt

Wie bereits Schumann selbst bezeichnet Gerhaher die neue Liedhaftigkeit der Lyrik im frühen neunzehnten Jahrhundert als Initialzündung neuartiger Liedkompositionen. Mitten in dieser Liederrevolution erfreut sich Goethe weiterhin der Wertschätzung vor allem Schumanns; zuvörderst angesichts seiner zeitgleichen Gedichte aus dem West-Östlichen Diwan, wenn diese auch einer geistigen Welt entstammen, welche jener der Romantiker geradezu abgewandt ist. Die Liedform ist es vor allem, die den Komponisten zum Weiterdichten reizt. Heine wollte Goethe ins Museum verbannen, Schumann bittet ihn ins Wohnzimmer. Wenn Sie gelegentlich Schumann hören oder spielen, wenn sie Ihre Frau zu Schumanns kongenialen Liedern begleiten oder wenn Sie sich gar wissenschaftlich mit diesem signifikanten Komponisten beschäftigen, dann sei Ihnen der Griff zu dem neuen Buch geraten.

Das Lied und sein Kontext

»Robert Schumanns Liedschaffen ist zwar nur rund halb so umfangreich wie das Franz Schuberts, des ‚Erfinders’ dieser Gattung, es ist jedoch durch eine besondere Konsequenz gekennzeichnet«, gibt Gerhaher zu bedenken. »Das äußert sich in einem bis heute einzigartigen Willen zur systematischen Konzeption von Anfang an.« Der Autor zeigt, wie Schumann Komponist auch insofern war, als er die Gedichtzyklen seiner Hefte anordnete. An dieser Stelle darf man vielleicht darauf hinweisen, wieviel Mühe sich schon die Dichter geben, ihre Gedichtzyklen zu komponieren; am Ende sind erwartungsgemäß die einzelnen Gedichte bekannt und werden in Anthologien neu angeordnet. Die Komposition der ersten Anordnung spielt für den Leser oft keine Rolle mehr, sollte aber ebensowenig dem Betracht entraten wie jene der Liederzyklen. Bei einzelnen Gedichten haben wir es meist mit aus dem Zusammenhang gerissenen Texten zu tun. Der kluge Hörer von Liedern schaut sich also zuerst an, wie das Gedicht ursprünglich eingegliedert war und wie es der Komponist im Vergleich dazu neu angeordnet hat.

Historisch-kritisches Hören

In diesem Zusammenhang ist es interessant, wenn Gerhaher Schumanns Widmung erwähnt. Gerhaher hört eine marienähnliche Verehrung der Angesprochenen heraus. Das Lied ist in der Tat ein Schlüsselwerk, und zwar bereits als Gedicht von Rückert. Die Worte: »Daß du mich liebst, macht mich mir werth / Dein Blick hat mich vor mir verklärt…« sind ergreifend. Der Blick des Angesprochenen macht den Sprecher allerdings abhängig. Seinerzeit schlug alle die Interpretation von Brigitte Fassbaender mit Aribert Reimann am Klavier in Bann. Die Aufnahme wirkt inzwischen zeitbedingt; Gedicht und Vertonung natürlich zeitlos. Auch dessen werden wir inne, wenn wir uns auf die Reflexionen Gerhahers einlassen. Christian Gerhaher leistet mit seinem Buch zu solch historisch-kritischem Hörerlebnis einen wesentlichen Beitrag. Dabei ist sein Detailsinn mit jenem eines Insektenforschers zu vergleichen. Wir lernen im Hinterkopf, ohne es zu merken.

Ein neues Standardwerk

Wir werden durch die Lektüre zu besseren Hörern. Für viele Musikanten und Musikhörer wird sein Buch ihre Kunstauffassung auf ein neues Niveau heben. Es ist ein notwendiges Buch. Vor allem Sänger werden sich um das Werk reißen, allein schon, um die Geheimnisse des Kollegen zu ergründen. Seine unbezahlbaren Insider-Informationen, etwa zur Umsetzung von Alban Bergs vertracktem Sprechgesang im Wozzeck, werden Kollegen, die vor einer ähnlichen Herausforderung stehen, Hilfe und Anregung bieten. Das Lyrische Tagebuch ist Pflichtlektüre für Sänger, Liedbegleiter, Komponisten und Opernregisseure; keinesfalls überflüssig jedoch für Dichter, die über die inneren Musikalitäten ihrer Gedichte nachdenken. Sie wollen heute abend Ihre Lieben mit der Schönen Müllerin erfreuen? Sie sitzen gerade an der Vertonung Ihres Lieblingsgedichts, womöglich selbst geschrieben? Sind Sie sicher, ob das Gedicht sich überhaupt zur Vertonung eignet? Welche grundsätzlichen Erwägungen liegen auf der Hand?

Christian Gerhaher
Lyrisches Tagebuch
C.H. Beck Verlag, München 2022
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Christian Gerhaher’s Lyrical Diary

The singer Christian Gerhaher, known for his outstanding interpretations, has published a lyrical diary that opens up a new dimension of understanding songs. In the book, Gerhaher reflects on his conception and interpretation of various songs and gives the reader an insight into his world of thought. He is an extensively educated artist steeped in art, who does not limit himself to his vocal performances but also acts as an actor.

Gerhaher’s diary illuminates the search for meaning and the content of his profession, which involves far more than self-reference and self-optimisation. It looks primarily at the lyrical, i.e. poems and their settings. The reader is encouraged to engage with Gerhaher’s prose in order to find the inner peace it takes to look at each song with an open mind and begin an interpretation.

The author praises Gerhaher’s interpretation of Schumann’s „Liebesbotschaft aus dem Liederbuch eines Malers“ by Reinick and emphasises the utmost objectivity and comprehensibility of the text. The interpretation gives the song a tragic undertone that enhances the ethereality of the remembrance of the beloved and her character. Gerhaher gives the work a meaning that may have escaped the poet, expressing a sombre atmosphere from the time of the Vormärz revolution of 1848. The author also brings Nietzsche’s views on Schumann into play and emphasises the tragic dimension of the interpretation.

Gerhaher deciphers Schumann’s songs and describes him as a composer with a unique will for systematic conception. The author emphasises the importance of the arrangement of the poem cycles and how it influences the overall composition. He encourages readers to look at the original arrangement of the poems and compare it with the composer’s rearrangement to gain a better understanding of the songs.

Gerhaher’s book is an important work that will make listeners listen more attentively and raise their appreciation of art to a new level. Singers in particular will benefit from Gerhaher’s insights and colleagues facing similar challenges will benefit from his insider information. The Lyrical Diary is a must-read for singers, song accompanists, composers and opera directors and also offers poets valuable insights into the musicality of their poems.

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