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Blackbox im Alu-Look

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Das Klangzeit-Festival in Münster bietet unkonventionelle musikalische und visuelle Erfahrungen. Von Stefan Pieper.

Nach so einem Gelände muss man auch in Berlin erstmal etwas länger suchen und auch im Ruhrgebiet sind Post-Industriebauten mit einem derart rauen Charme selten geworden: Nicht weniger als fünf große Clubs dominieren den vorderen Bereich der graffitibunten Bauten – wer tiefer in den Komplex vordringt, stößt auf Ateliers, Werkstätten und improvisierte Ausstellungshallen. Die Rede ist von Münsters Hawerkamp-Gelände, dem ehemaligen Betriebsgelände einer großen Baufirma, in dem sich die Leidenschaft für freie Kultur über alle schnöden Begehrlichkeiten von Abriss bis Neubebauung als stärkste Kraft etablieren konnte. Jetzt wurde die „Halle B“, normalerweise ein riesiger Ausstellungsraum, zum Schauplatz für die „Hochkultur“: Damit zeichnen sich Macher des Münsteraner Klangzeit-Festivals als echte „Raumpioniere“.

„Sounds und Frames“ hieß der Titel eines Konzertes und Workshops, wo Pioniertaten des Avantgardefilms im 20. Jahrhundert mit Livemusik „bespielt“ werden. Im Kern des Projekts stand ein beklemmendes Schwarzweiß-Psychogramm von Maya Deren „Meshes of the Afternoon.“ Zwar hatte die Leindwandprojektion mit der hineinflutenden Abendsonne zu kämpfen, aber zusammen mit den aufspielenden Musikern ergab sich ein höchst eindringlicher atmosphärischer Zusammenklang. Grandios, wie die auf mehreren Seiten des Raumes platzierten Streichergruppen die Erregungskurven der Filmhandlung elektrisierend verdichteten – auf Grundlage kompositorischer Vorlagen von Johann Sebastian Bach bis Penderecki, ebenso aber durch kollektiv improvisiertes Spiel!

 

Linda Nordström (Tanz) / Daniel Agi (Schlagzeug)

 

Noch dezidierter auf Improvisation setzte ein Filmkonzert in Münsters freiem Theater Pumpenhaus. Hier macht ein surrealer Experimentalfilm von Harry Everett Smith erfahrbar, welch kühner abstrakter visuell animierter Ideenfluss ganz ohne Computertechnik, dafür in akribischer Handarbeit am Schneidetisch in aufregende Bewegungen gerät. Zur „Visualisierung des Unbekannten“ legten sich drei Musiker Florian Walter, Saxofone und andere Blasinstrumente, Erhard Hirt, Gitarren und Live Elektronik und Ross Parfitt, Perkussion und Elektronik, mächtig ins Zeug.

Komponieren läuft nicht selten auf das „Beantworten von Musik“ hinaus. Komponisten der Gegenwart wie Roman Pfeifer bedienen sich hier gern der Popkultur. Dessen im cuba-Kulturzentrum uraufgeführtes Stück „silver studio“ ging hier sehr unmittelbarer zu Werke: Man denke, höre und träume sich in so manch sphärisches Velvet-Underground-Stück hinein. Verpflanze den hier vorkommenden stoischen Minimalismus in eine eigene emotionale Klangwelt. Und lasse sich zudem von Andy Warhols genial-dilletantischen Inszenierungen im heute inspirieren: Also wurde der Raum, der sich bezeichnenderweise Black Box nennt, komplett mit silberner Alufuolie ausgekleidet. In der Mitte agierte die Tänzerin Linda Nordström. Oder war es gerade deren Nicht-Aktion, welche so viel beredte Ausdruckskraft entfaltete? Derweil schwirrt und schwillt der Klangstrom, hypnotisiert die immergleiche Textur. Zu mächtigem Elektronik-Ambiente pocht das Drumset von Daniel Agi, singt, klagt, sägt die Viola von Alice Vaz.

 

Linda Nordström (Tanz)

 

„Auf Abwegen“ befand man sich schon gerne in den Räumlichkeiten des Kulturzentrums cuba – und auch bei der Klangzeit lief eine Traditionsveranstaltung wieder zur Höchstform auf: So gab sich unter der leidenschaftlichen Kuratierung von Till Kniola die international vernetzte Szene der Noise-Aktivisten und freien elektronischen Klangforscher ein Stelldichein. Auch in dieser Hinsicht geht die jüngste Festivalausgabe unter dem neuen Konzept in die Vollen und präsentierte amtliche Protagonisten wie Simon Fisher Turner oder das Elektronik-Projekt „Das synthetische Mischgewebe“.

Der neu gewählte Festivaltermin der Klangzeit im Mai erlaubt es, umsonst, spontan und draußen Menschen mit musikalischer Gegenwart zu erreichen – so geschehen im Rathausinnenhof der Westfalenmetropole: Hier erreichte das Ensemble Neue Musik der Musikhochschule ein interessiertes und höchst aufmerksames Laufpublikum mit Werken von John Cage. James Tennay und Louis Andriessen.

Um Sinnlichkeit, ja Schärfung der Sinne durch bewusste Ausschaltung alltäglicher Wahrnehmung ging es bei einem Dunkelkonzert in der Musikhochschule Münster.  Unter den Händen von Wolf Bender, Violine, Salma Sadek, Violine, Miriam Götting,Viola und Mathis Mayr wurde das mikrotonale Streichquartett von Georg Friedrich Haas zu einem Trip in die eigene Psyche. Und auch Karlheinz Stockhausens elektronische Komposition „Kontakte“ verfehlt unter solchen Bedingungen ihre mystische Wirkung nicht.

 

 

Mit diesen und noch vielen weiteren Konzerten und Performances zeigte sich das Klangzeit-Festival einmal mehr als zuverlässige Größe für eine erfrischend-interdisziplinär erfahrbar gemachte musikalische Gegenwart. Dahinter steht eine seit dem Jahr 2000 engagiert gepflegte Kräftebündelung verschiedener Akteure unter dem Dach der Gesellschaft für Neuen Musik e.V.

Ein Besuch der Klangzeit kann bestens dazu inspirieren, auch über dieses Festival hinaus in Münsters viele innovativen Kulturangebote jenseits des Mainstreams einzutauchen: Neue-Musik-Konzerte der Gesellschaft für Neue Musik finden regelmäßig statt, und es gibt zuhauf freigeistige Improvisationskonzerte in der Blackbox des Cuba. Und der Hawerkamp öffnet jedes Wochenende seine Pforten.

Weitere Informationen:
Blackbox im cuba: hier
Klangzeit-Festival: hier
Gesellschaft für Neue Musik Münster e.V.: hier
Hawerkamp31 e.V.: hier

 

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