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Bayreuther Festspiele 2022: Nach Tristan kommt nichts mehr

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richard wagner porträt

Zwei grandiose Darsteller, ein weitgehend sinnfreies Stück: Dagmar Manzel und Sylvester Groth zu sehen ist immer ein Vergnügen. Selbst in »Nach-Tristan«, einem nicht ernsthaft sinnsuchenden und darum auch nicht findenden Capriccio am Rande der Festspiele. Unser Theaterbesucher Stephan Reimertz vermag in dem Gebilde lediglich die unfreiwillige Selbstdarstellung einer Gesellschaft auf der Kippe zu erkennen. Um unseren Lesern dennoch etwas zu bieten, versucht er die geistesgeschichtlichen Hintergründe dieses Fauxpas zu erhellen und etwas Licht ins Nichts zu bringen.

Die alten DDR-Schreibmaschinen waren schwer zu bedienen. Kein Wunder, wenn im Westen ein jeder, der auf ihnen tippen konnte, als Künstler galt. In der alten Bundesrepublik war im Grunde jeder, der aus Österreich oder der DDR kam, ein Schriftsteller. Bei einem Österreicher reichte der Missbrauch des Plusquamperfekts, bei einem DDR-Bürger der sächsische Tonfall. Ersatzweise tat es auch der thüringische. Wenn man dann noch eine Totenkopf-Physiognomie wie Heiner Müller vorzeigen konnte und Zigarre rauchte, standen einem in Westdeutschland alle Türen offen. Niemanden störte es, wenn man französische Klassiker verkorkste und Opern in Bayreuth »inszenierte«. Jeder, der den Briefroman »Les Liaisons Dangereuses« von Pierre Choderlos de Laclos gelesen hat, dürfte die intellektuelle Sparversions fürs Theater unter dem Namen »Quartett«, die Heiner Müller anfertigte, nur sehr bedingt ästimiert haben, besonders wenn er sie 1983 in der Regie von Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen sah. Entschuldigen Sie den Ausdruck, aber hier konnte man nur von einer »abgefuckten« Selbstdarstellung der alten Bundesrepublik sprechen. Diese folgt zwar einer realistischen Selbsteinschätzung, war jedoch keine Freude für Leser des Originals von Laclos und Liebhaber französischer Kultur.

Selbstdarstellung einer pseudointellektuellen Clique

Die nachgerade erheiternde Anmaßung, die in dieser »Bearbeitung« eines Klassikers lag, welcher in Frankreich Schullektüre ist, vermochte Müller noch zu überbieten, als er sein Pamphlet in Zusammenhang mit »Tristan und Isolde« stellte, die er in Bayreuth inszenierte: »Wenn die sich gekriegt hätten, wäre es zwanzig Jahre später so zugegangen wie im Quartett.« Auch das kann man jetzt im Programmheft nachlesen und nur den Kopf schütteln. Der neue Bayreuther Theatermurx knüpft nun an Müllers Beschäftigung mit den »Gefährlichen Liebschaften« wie an »Tristan und Isolde« an. Schlimm genug war’s, »Quartett« damals auf den Brettern der Kammerspiele sehen zu müssen, dieses Kokettieren mit der eigenen Abgefeimtheit und Verwerflichkeit westlicher Gesellschaften. Dazu, dergleichen vierzig Jahre später wieder aufzuwärmen, besteht wahrlich kein Grund. Allein der DDR-Schriftsteller Müller hat es im wiedervereinigten Deutschland, zusammen mit dem ihn permanent interviewenden FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, zu einer der meistüberschätzten Persönlichkeiten gebracht. Man konnte nicht sagen, worin die Begabung der beiden bestand, sie waren einfach da. Dem von der Zerstörung des Gymnasiums, der Abschaffung des altsprachlichen Unterrichts, dem Angriff auf Humanismus und klassische Bildung zermürbten und auf den Hund gekommenen Land konnte man wieder alles aufoktroyieren. In einer solchen geistigen Notgemeinschaft konnte auch ein Schirrmacher als Herausgeber einer Zeitung auftreten, die einst von einem Heinrich Simon, Friedrich Sieburg, Hans Schwab-Felisch, einem Karl Heinz Bohrer intellektuell bestimmt worden war.

Im Suff geschrieben?

Welcher Art der verantwortungslose Dämmersprecher Heiner Müller war, zu dem das Feuilleton wie zu einem Hohepriester aufblickte, konnte man jetzt im Programmheft von »Nach-Tristan« wieder lesen. Müller schreibt: »So wie der Faschismus eine weißglühende Episode in dem vielhundertjährigen kapitalistischen Weltkrieg war, ein geographischer Lapsus, Genozid in Europa statt, was die Norm war und ist, in Südamerika, Afrika, Asien.« Was will er? Haben nicht die letzten Monate wieder gezeigt, wie Deutschland innerhalb eines komplexen und nicht ungefährlichen Kontexts steht, der echte Intellektuelle erfordert, nicht Schwadroneure und Ideologen? Das Capriccio am Rande der Festspiele, »Nach-Tristan« betitelt und mit dem Untertitel »Eine Reise aus der Vergangenheit rückwärts in die Gegenwart« versehen, nennt Heiner Müller, August Strindberg und Richard Wagner als Autoren, für die »Textfassung« zeichnen Dramaturg Gerhard Ahrens und Regisseur Ingo Kerkhof verantwortlich. Für Cineasten dürfte es einen gewissen Reiz besitzen, die beiden gloriosen Darsteller Dagmar Manzel und Sylvester Groth, die schon vor vierzig Jahren in dem Debutfilm »Fronturlaub« von Bernd Böhlich zusammen auftraten, wiedervereint zu sehen. Keine Frage, diese beiden virtuosen Artisten können alles Spielen, machen aus allem ein poetisches Theatererlebnis. sie könnten auch das Bayreuther Telephonbuch dramatisieren. Das ist aber kein Grund, ihnen nicht ein gutes Theaterstück an die Hand zu geben statt eines zwischen Unentschiedenheit und Beliebigkeit schwankenden Textkonglomerats. Unter dem Tonnengewölbe des Bayreuther Reichshofs vor spärlich besetzten Reihen müssen die Darsteller elektronisch verstärkt sprechen in ihrem beliebigen Zitatcapriccio, das schon in den siebziger Jahren ein Langweiler gewesen wäre. Wie soll man es heute nennen? Ein großes Kompliment an die beiden Darsteller: Sie machen aus nichts etwas. Aber haben wir, hat das Theater nicht wichtigeres zu tun?

Debussy für die Mundharmonika arrangiert

Man könnte sich ein Ehepaar nach einem Opernbesuch beim letzten Drink vorstellen, das einander Assoziationen an die Stadien seiner Liebe zuwirft. Der Raum ist halb Wohnzimmer, halb Probenraum; eines der typischen indefinitiven Bühnenbilder unserer Zeit, vor allem in der Oper, wenn Regisseure nicht wissen, was sie eigentlich wollen, und der Bühnenbildner noch weniger. Ein Akkordeonist schleicht herum und spielt assoziativ Motive an, vor allem aus Wagners »Tristan«; man kann nicht umhin an Ernst Robert Curtius’ Bemerkung über die erste deutsche Proust-Übersetzung zu denken, hier werde »Debussy für die Mundharmonika ‚arrangiert’«. Das alles versinkt im Bedeutungsvielen, d. h. Bedeutungslosen. »A tragical mixture of everything and nothing«, hätte Sergiu Celibidache gesagt. Oder, mit Friedrich Nietzsche zu sprechen: »Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.«

Was bleibt?

Nichts. Die sich selbst aufhebenden Bedeutungen dieses sinnlosen Theaterabends wirken darum so erschreckend, weil bereits 1970 das gleiche einem saturierten und erschlafften Theaterpublikum der damaligen Zeit hätte vorgesetzt werden können. Aber wie kommt dieses Stückchen in das Programm der Bayreuther Festspiele? Das bleibt ein Rätsel. In Literatur und Theater hat ein Cliquenwesen überhand genommen, welches, wenn es so weitergeht, die gesamte Kultur, auch die öffentliche Förderung, unter sich begraben wird. Um poetische, literarische, dramaturgische Qualität geht es nicht mehr, allein noch um die Selbstreproduktion eines bestimmten Milieus. Man kann es geradezu als bitteren Witz auffassen, wenn in diesen Tagen in allen Medien die Theaterintendanten über Zuschauerschwund klagen. Diesmal wird Corona die Schuld gegeben, so wie früher den Neuen Medien, einst dem Aufkommen des Fernsehens und davor dem Kino. »Nach-Tristan« ist die unfreiwillige Selbstdarstellung einer tiefen Krise der Theaters, unserer Gesellschaft – aber auch der Bayreuther Festspiele, denn da gehört es nicht hin.

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