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Statt Kino: Hier spricht Bach selbst

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Von Stephan Reimertz.


Das Konzert für zwei Violinen, Streicher und B.c. d-Moll BWV 1043 gilt als das bekannteste Werk aus dem Corpus der drei überlieferten und fünf rekonstruierten Violinkonzerte von Johann Sebastian Bach, wobei die Brandenburgischen Konzerte und das Tripelkonzert ebenfalls als Violinkonzerte angesprochen werden können. Das Doppelkonzert erfreut sich einer unübersehbaren Anzahl von Einspielungen und Überarbeitungen, nicht zuletzt vom Komponisten selbst, der das Werk Jahre später für zwei Cembali setzte, oder zu Django Reinhardt, der 1937 mit den Geigern Eddie South und Stéphane Grappelli zwei Versionen des Konzerts aufnahm. Die Play-Bach-Welle des zwanzigsten Jahrhunderts zeigte freilich vor allem die Unverwüstlichkeit des Komponisten.

Komplex und knackig

Tatsächlich weist das Doppelkonzert BWV 1043 einige Vorzüge auf, die über jene von der Musikwissenschaft gepriesenen hinausgehen. Sein kompositorischer Charakter ist in einer Weise auf aphoristisch zusammengedrängten Gegensätzen aufgebaut, wie es sich im Werk selbst dieses Komponisten selten findet. Mit seiner Verbindung aus Dolcezza und dramatischen Auf- und Entladungen verleugnet es das Vorbild Vivaldis keineswegs und besticht zudem mit der Virtuosität, mit der im ersten Satz eine Fuge im Tutti und ein Gegenthema in den Soli eingeführt ist. Auch die Art und Weise, wie der zweite Satz sich aus seinem Siciliano-Beginn zu dramatischen Szenen hochschaukelt sowie der enge Kanon des dritten Satzes zeigen den Komponisten als äußerst wirkungsbewusst, und all dies auf kleinstem Raum.

Jugendlichkeit und musikalische Reife

Wir haben es also mit einem Bach in nuce zu tun; allein so groß die Versuchung für Musiker, das signifikante Hauptwerk aufzuführen, so unüberschaubar ist auch die Herausforderung. Vollkommene technische Beherrschung des Instruments kann hier schon kein Thema mehr sein, wird vielmehr vorausgesetzt. Man muss mit einer künstlerischen Haltung und musikalischen Intelligenz an das Werk herangehen, wie es hier in der Einspielung des Festival String Lucerne vom 27. März 2021 im Rahmen der Schweizer Talentwoche gezeigt wird. Ohne Kapellmeister springt das Orchester recht flott ins Werk. Violinist Daniel Dodds stellt mit nobler Zurückhaltung einen sicheren und elastischen Rahmen, in dem Orchester und Violinistin Vivienne Richter sich maximal entfalten können. Richter war zu diesem Zeitpunkt fünfzehn Jahre alt und zeigt eine beiläufige Souveränität und musikalische Reife, wie man sie auch manchem älteren Musikanten wünschen würde.

Bach der Neoklassiker?

So entfaltet sich »das Einfache, das schwer zu machen ist«, wie der Dichter sagt, als kleines Wunder vor den Ohren der Zuhörer. Wir brauchen solche Künstler, die uns eine vermeintlich vertraute Welt von einer neuen Seite zeigen. Die verblüffende Einspielung offenbart uns einen jugendlichen, wenn man so will: neoklassischen Bach und erinnert daran, dass dieser evangelische Mystiker eben auch Zeitgenosse Voltaires und Friedrichs des Großen ist, auch wenn man ihn beim Hören oft zwei Jahrhunderte früher verorten und zwischen Martin Luther, Albrecht Dürer und Hans Burgkmair wiederfinden möchte. Vergessen wir auch nicht, dass der Komponist, etwa mit dem Gloria aus der h-moll-Messe oder dem Himmelfahrtsoratorium BWV 11 in unleugbare Nähe zu Leibnitz‘ bester aller möglichen Welten tritt; und dies seinem durchgängigen christlichen Pessimismus zum Trotz. Allein ein Tonsetzer ist niemals ohne weiteres in Beziehung zu einer Philosophie zu sehen. Sprechen wir vorsichtig von zwei verschiedenen Ordnungssystemen. Theodor W. Adorno, immerhin sowohl Philosoph als auch Komponist, bleibt am Ende seiner unvollendeten Beethoven-Monographie auch nichts anderes übrig, als Ludwig van Beethovens Satz zuzustimmen: »Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie.«

Genialität des Übergangs?

Wer unsere heutige Aufnahme ein dutzendmal anhört und -sieht und sie auch mit anderen vergleicht, wird die schlafwandlerische Natürlichkeit und Perfektion erkennen, mit der Dodds und Richter das ikonische Werk zum Leben erwecken. Vom Konzertmeister sollte man nichts anderes erwarten, doch was ist das Geheimnis der wundersamen Vollkommenheit einer Fünfzehnjährigen? Befinden wir uns hier am Ende oder am Anfang einer Entwicklung? Handelt es sich um die vergängliche Genialität des Übergangs? Sind wir mit dieser Aufzeichnung gerade in jenem Moment anwesend, in dem die Seite umgeblättert wird? Es hat etwas von dem Genie, die jeder Jugend innewohnt, die aber nur selten zum Vorschein kommt. Da muss einer sehr in sich ruhen und in die rare Konstellation zwischen Sensibilität und Kraft, der Ruhe und dem Tänzerischen eintreten. Vor ein paar Jahren war ich als Zuhörer in einer Meisterklasse des Cellisten David Geringas – Richter spielt übrigens auch Cello – in Salzburg. Nach den erstaunlichen Vorführungen seiner jugendlichen, z. T. auch kindlichen Schüler entspann sich folgender Dialog:

Stephan: Lieber Maestro: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem guten Primargeiger oder einem tüchtigen Orchesterchef auf der einen Seite – und auf der anderen einem Brendel, Celibidache oder Rostropowitsch?

Geringas: Drei Dinge müssen zu gleichen Teilen zusammenkommen: Begabung, Fleiß und Glück.

So sehr ich den Worten von Meister Geringas zustimmte, so entschieden gab ich mir selbst auf die Frage noch eine eigene Antwort: Wie wird aus einem großartigen Musiker ein großer Musiker? Indem er nicht ausschließlich im eigenen Teich dümpelt, wie dies leider gerade bei Musikanten meist der Fall ist, sondern Kontakt zu anderen Künsten, anderen Lebensbereichen sucht; nicht nur mit seinesgleichen umgeht, sondern auch mit Philosophen, Malern, Autoren und Wissenschaftlern. Wer nur von seinem Fach etwas versteht, der versteht bekanntlich auch davon nichts; das gilt besonders für Musensöhne und –töchter.

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