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»Man könnte das auch ganz anders erzählen«

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Es gibt ja zu wenig Theaterstücke, deshalb müssen die imaginären Memoiren von Annie Ernaux unbedingt dramatisiert werden. Im Marstall zu München zelebrieren Charlotte Schwab, Sibylle Canonica und Juliane Köhler »Mémoire de fille« (Erinnerungen eines Mädchens) der Autorin als esoterische Performance. Und wieder wird deutlich, warum Madame Ernaux in Deutschland bekannter ist als in Frankreich.
Von Stephan Reimertz.

Wenn im fast abgedunkelten Marstall, in welchem die Wittelsbacher einst ihre Vollblüter unterstellten, und in dem sich nun die Theater-Halbblüter versammeln, die einschlägige Reibeisenstimme von Charlotte Schwab ertönt, reagiert der Besucher mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Grund zur Freude hat er, weil Charlotte Schwab nicht gleichzeitig gegenüber im Opernhaus sein und als Moderatorin der ausgewalzten Entführung aus dem Serail auftreten kann. Ein wenig traurig ist er aber auch, wenn er an die spannende und tiefgründige Kriminalfilm-Serie Das Duo zurückdenkt. Wie viel lieber sähe er Frau Schwab in den kommenden eineinhalb Stunden wieder als Kommissarin in der TV-Reihe statt in dieser bei all ihrer Ambition doch wenig zwingenden Dramatisierung einer banalen autobiographischen Erzählung von Annie Ernaux, die vor fünf Jahren unter dem Titel Mémoire de fille bei Gallimard erschien.

Undramatisches Gehusche

Von dieser Stelle aus bittet der unterzeichnende Krimifan um Fortsetzung von Das Duo! In einem guten Krimi steckt mehr Kunst als in einer dünnblütigen Theaterinszenierung. Die zugrundeliegende autobiographisch angehauchte Erzählung von Annie Ernaux gibt literarisch und dramatisch nicht genug her. Für »die wirkliche, brutale Bühne«, wie Hofmannsthal gesagt hätte, ist das nicht; eher können wir es ein Erinnerungs-, Identifikations- und Traumtheater nennen, ein lyrisches Spiel. Die erwachsene Frau taucht ein in die Welt ihrer Pubertät und ersten sexuellen Erfahrungen. Tatsächlich hätte man das Traum- und Erinnerungsspiel sogar noch weiter entfalten können durch ein stärkeres choreographisches Moment. Im Marstall verkörpern Charlotte Schwab, Sibylle Canonica und Juliane Köhler drei Aspekte derselben Frau, welche freilich ineinander verschwimmen, und so verquillt das Ganze im Ungefähren, während die Schauspielerinnen unmotiviert über die Bühne huschen. Unfreiwillig komisch wirkt auch, wenn die drei nicht mehr ganz so jugendlichen Damen in der normalerweise von Mädchen getragenen Matrosenshirt, der Marinière, auftreten.

Billige Lagen für den Export

Schon der Ausgangstext hat keine Erotik und ist sehr einfach gestrickt. Höhepunkte der literarischen Erregung klingen bei Ernaux wie folgt: »Er steckte ihr seinen Schwanz in den Mund, und das Sperma kam in Wellen.« Was hier in Wellen kommt, sind die Nachbeben der Bildungskatastrophe. Es ist dramaturgisch überaus fragwürdig, einfach Prosatexte zu dramatisieren. Schließlich hat der Autor sich aus gutem Grund für eine bestimmte Form entschieden und nicht für eine andere. Und wie die Franzosen beim Wein bestimmte billige Lagen nicht selber trinken, sondern gleich für den Export vorsehen, so auch in der Literatur. Autoren wie Annie Ernaux, Didier Eribon oder Edouard Louis sind in Deutschland weit bekannter als in Frankreich. Dabei harren dutzende Theaterstücke begabter junger Autoren hierzulande ebenso der Aufführung wie Klassiker.

Zusammenfassung

Die Erzählung Mémoires de fille von Annie Ernaux verbindet Banalität mit prätentiöser Geste und eignet sich besonders wenig zur Dramatisierung. Die Dramatisierung von narrativer Prosa ist in der Regel eine formal anfechtbare Entscheidung, weil sie die formale Wahl des Autors übergeht. Dennoch kann ein geschickter Dramaturg aus fast jedem Prosastück ein interessantes Theaterstück machen. Dies ist in der Inszenierung am Münchner Residenztheater indes nicht der Fall, da das intendierte Traum- und Erinnerungstheater weitgehend undramatisch wirkt und ein lyrisch-musikalischer Effekt sich, nicht zuletzt aufgrund der Banalität der Sprache und des Bühnenbildes, nicht einstellen will. Eine Textvorlage von Maeterlinck, Hermann Bang u. ä. hätte sich dafür besser geeignet. Auch die drei sehr erfahrenen Actricen können an den Problemen der vielfach verfehlten Dramaturgie nichts ändern.

Weitere Vorstellungen am 2. und 30. Oktober 2021

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