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Federleicht: „La fille de Madame Angot“ von Charles Lecocq

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oper-beitragsbildVon Ingobert Waltenberger.

Was so alles geschieht, wenn sich eine schöne, von Pariser Marktstandlern aufgezogene Waise in einen knackigen Chansonnier vergafft…

In der 30. Opernproduktion des venezianischen Verlags, der sich um vergessene französische Musik eines weit gedachten 19. Jahrhunderts (1780-1920) kümmert, wird die federleichte Opéra comique in drei Akten „La fille de Madame Angot“ des berühmten Charles Lecocq vorgestellt.

 

Eine der erfolgreichsten französischen Operetten – Geschichte und Geschichten

Die historisierende Operette spielt in der Zeit des sogenannten Direktoriums. Es herrschte vom 26. Oktober 1795 bis 24. Dezember 1799 und war die letzte Regierung der Französischen Revolution, nachdem sie 1799 von Napoleon gestürzt wurde. Im Zentrum der Handlung steht die junge Waise Clairette Angot. Ihre verstorbene Mutter war eine schöne, scharfzüngige zu Geld gekommene Fischhändlerin in den Pariser „Les Halles“, deren abenteuerlicher Ruf sogar bis nach Konstantinopel gereicht haben soll. Clairette, wahrscheinlich die Tochter eines türkischen Herrschers, soll den Perückenmacher Pomponnet heiraten, ist aber in den Poeten und Chansonnier royaliste, heute würde man sagen Singer-Songwriter, Ange Pitou, verliebt. Der Finanzhai Larivaudière ist samt dem Minister Barras in eine üble Korruptionsaffäre – wie das halt damals und bisweilen auch heute so üblich ist – verstrickt. Dazu beginnt der reiche Tunichtgut ein Techtelmechtel mit der Geliebten des Ministers, der Schauspielerin Mademoiselle Lange.

Politik und Liebe

Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für unseren Dichter Pitou, der sofort anzügliche Chansons über diese Ménage-à-trois schreibt. Aber wie war das nochmals? Ach ja: Wer zahlt, schafft an. Der reiche Larivaudère gibt Pitou Schweigegeld, damit alles unter dem Teppich bleibt. Nur Clairette hält sich nicht daran und noch weniger den Mund. Sie singt diese infamen Chansons lauthals und kommt dafür ins Gefängnis. Das ist der jungen quirligen Frau nur Recht, so kann sie vorerst der Heirat mit dem faden Pomponnet entkommen.

Eifersucht und Rache

Aber eine politische Konspiration der Actrice Lange und des Investors Larivaudière sowie die erbitterte Fehde zweier Frauen (Clairette, Lange) um denselben schmucken Verseschmied Ange Pitou wirbeln alles durcheinander. Der singende Dichterling ist ein Hallodri und auch galanten Treffen mit der politischen Umstürzlerin Mademoiselle Lange nicht abgeneigt. Nach einer gelungenen Racheaktion, in die Clairette die ganze Kaufmannschaft von „Les Halles“ komplizenhaft teil haben lässt, entschließt sie sich dazu, doch den treuen Pomponnet zu ehelichen. Freilich hofft Ange Pitou darauf, das der Apfel nicht weit vom Stamm fällt und Clairette sich am Ende genau so erotisch großzügig erweist, wie einst ihre Mutter Madama Angot….

„La Fille de Mme Angot“ begründet eine neue Ära der französischen Operette

„La fille de Madame Angot“ spielt zur Freude des damaligen gebildeten Publikums bewusst mit einer reellen Vergangenheit. Pitou, Mademoiselle Lange, Larivaudière, all das sind Personen, die es wirklich gegeben hat. Sogar Referenzen an überlieferte Anekdoten der Zeit sind in diese Opéra comique eingebaut. Die Musik selber ist allerdings ein fesches Kind der 1870er-Jahre zwischen Walzerseligkeit und populären Chansons. Lecocq wollte am Ende nichts Geringeres, als der französischen Operette ihren durch die frech-bösen Offenbach- und Hervé-Stücke „getrübten“ Glanz wieder verleihen. In Fragen der Instrumentierung, der Komplexität der Harmonien, dem Einsatz des Chors sollte sich diese Operette nach dem Willen des Erfinders vom vulgären Humor ihrer Vorgänger unterscheiden und so eine neue Ära begründen. 

Ersteinspielung der Fassung der Brüsseler Uraufführung

Die vorliegende Aufnahme greift auf die leichtere Besetzung der Uraufführung im Théâtre des Fantaisies-Parisiennes in Brüssel vom 4.12.1872 zurück. Nur eine Oboe, ein Fagott und eine Posaune rekalibrieren die Balance mit Triangel und Pauke. Auf ein Becken, wie in allen anderen Aufnahmen der Operette, wird bewusst verzichtet. Zwei bislang unveröffentlichte Nummern sind in dieser musikalisch durchwegs sehr erfreulichen Gesamtaufnahme zum ersten Mal zu hören: Ein Duett zwischen Pitou und Larivaudière im ersten Akt und die Couplets der Mademoiselle Lange und des Ange Pitou im zweiten Akt.

Das Stück bedient sich des Naturalismus eines Emile Zola (der die berühmtem Pariser Markthallen in seinem Roman „Der Bauch von Paris“ für alle Ewigkeit literarisch porträtiert hat), gleitet aber zur Freude des Publikums ganz schon in die Untiefen einer spitzen Parodie. Pomponnet, der designierte Ehegespons der Clairette, ist ein Witzbold, ein armseliger Macho und zukünftig Gehörnter. Der Dichter Pitou wettert zwar gegen die Hochzeit Clairettes, im Moment, als er die Einladung einer schönen Unbekannten erhält, besingt er seine Situation mit einer Mischung aus „Zynismus, Zärtlichkeit und Unverfrorenheit.“ (Gérard Condé). Das Ende bleibt offen: Wird Pitou der Lover der Lange oder derjenige der Clairette?  

Klanglich und künstlerisch hervorragende Neuproduktion

Das Stück hatte in Paris einen unglaublichen Erfolg. Nach der Premiere am 21.2.1873 wurde es in den „Folies Dramatiques“ 411 mal hintereinander aufgeführt. Im 20. Jahrhundert gibt es jede Menge an Aufführungen und Aufnahmen zu verzeichnen, als da an Letzteren u.a. wären: Eine historische Aufnahme aus dem Jahr 1958 mit dem Choeur et Orchestre symphonique de Paris unter Richard Blareau, eine Studioproduktion der EMI mit Mady Mesplé in der Hauptrolle, dem Orchestre National du Théâtre de l‘Opéra Comique unter Jean Doussard, eine weitere Produktion von Philipps unter der musikalischen Leitung von Jesus Etcheverry und ältere historische Einspielungen, u.a. eine Aufnahme in italienischer Sprache mit Lina Pagliughi als Clairette.

Die neue, sorgfältig erarbeitete, unter strengen Corona-Auflagen realisierte Einspielung von Palazzetto Bru Zane aus Paris, wird vom Orchestre de chambre de Paris sowie dem Choeur du Concert Spirituel unter der künstlerischen Leitung von Sébastien Rouland bestritten. Die Besetzung ist typengerecht, sprachlich idiomatisch und wartet in der Rolle der Mademoiselle Lange mit dem großen Star der Opernreihe, der köstlichen Veronique Gens auf. Anne-Catherine Gillets lyrischer Sopran vermittelt sowohl das Aufmüpfige, Selbstbewusste, Eifersüchtige, Rachelüsterne und nicht zuletzt das Laszive der Titelpartie. Der Tenor Mathias Vidal als erotisch hin- und hergerissener Künstler, und noch ein junger französischer Tenor in der Rolle des Pomponnet, Artavazd Sargsyan, beweisen das hohe Niveau, deren sich derzeit die französische Gesangskunst erfreut. Auch die übrige Besetzung mit Matthieu Lécroart (Larivodière), Antoine Philippot (Louchard), Ingrid Perruche (Amaranthe, Hersilie, Javotte, Babette), Flannan Obé (Trénitz, Guillaume, Buteux) und David Witczak (Un Incroyable, Un Officier, Cadet) erfreut durch Sprachwitz, drastische Situationskomik und charaktervoll timbrierte Stimmen.

Charles Lecocq: La fille de Madame Angot
Orchestre de chambre de Paris
Choer du Concert Spirituel
Sébastien Rouland
Palazzetto Bru Zane, 2021
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