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Erstes gemeinsames Konzert mit Kirill Petrenko nach seiner Wahl zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker

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Feuilletonscout Das Kulturmagazin für Entdecker MusikDie Aufnahme vom 22./23. März 2017 begeistert Ingobert Waltenberger.

Am vergangenen Montag trat der alle Maßstäbe sprengende und in kein Schema passende russische Dirigent offiziell seine Position in Berlin an. Das Antrittskonzert findet am 23. August mit Beethovens Neunter Symphonie in der Philharmonie (Marlis Petersen, Elisabeth Kulman, Benjamin Bruns und Kwangchul Youn werden die Solisten sein) statt. Am 24. August wird das Konzert vor dem Brandenburger Tor wiederholt. Als Vorgeschmack auf Kommendes ist jetzt auf dem orchestereigenen Label Berliner Philharmoniker Recordings der erste Live-Mitschnitt mit dem Aufnahmen generell gegenüber so reservierten Maestro erschienen.

Petrenko und den Berlinern gelingt eine intensive, Gegensätze bis zum Anschlag auskostende Interpretation, die auch Tempo-Extreme nicht scheut. Himmel und Hölle werden hier gleichermaßen zu einem klingenden Poem, binden wilde Landschaft an Emotionen, einen offen liegende Wunden und trunkene Lebensfreude. Petrenko lässt den Hörer an seinen Gedanken zur Arbeit an der Sechsten und letzten Symphonie Tschaikowskis mit Originalzitaten im Booklet hautnah teilhaben.

Wie Tschaikowski ist Petrenko überzeugt, dass jede Musik nicht anders als von einem gewissen Lebensinhalt herrühren kann und davon auch handelt. Immer wieder erzählt Tschaikowskis Musik ganz persönlich von seinen inneren Ängsten. Petrenko: „Die Pathétique“ ist Tschaikowskis musikalisches Testament. Natürlich handelt es sich um mehr als ein autobiographisches Werk. Seine Musik ist unmittelbar wegen oder nach einschneidenden Erlebnissen in seinem Gefühls- und Privatleben entstanden. In ihr spiegelt sich sein lebenslanger Kampf gegen sein eigenes Schicksal wider.“

Petrenko lässt die Symphonie wie eine Retrospektive ablaufen. Nach der Einleitung spielt das Leben am Totenbett weiter, spult es sozusagen vor und zurück. Im Marsch des dritten Satzes ereignet sich ein Triumph des Positiven oder ein Triumph der bösen Kräfte, der Widersacher, der Zerstörer, der Menschen, die einen vernichten wollen. Und nach dem Ende des dritten Satzes vor Beginn des vierten Satzes, da vergehen für Petrenko dramaturgisch – auch ein bisschen aus der Opernperspektive – Zeiträume, die das Ganze binden.

Wenn ich mir diese in keine Kategorie passende Interpretation Petrenkos anhöre, so beginnt wirklich eine neue Ära mit dem Berliner Prachtorchester. Auf jeden Fall hat da einer was ganz Eigenständiges zu sagen zu dieser Musik, die schon so oft gespielt und unterschiedlich interpretiert worden ist. Spannend ist, dass ich dieses Berliner Spitzenorchester trotz aller unglaublichen Perfektion noch nie so aus der Fassung gebracht‘ gehört habe wie bei diesem Mitschnitt. Petrenko würzt den ersten aufgepeitschten Satz mit Tropfen flirrenden Zitterns. Das Adagio lamentoso ist mit Fasern bewegender existenzieller Unruhe bis hin zum Schmerz durchspickt. Er schürzt gleich im ersten Satz Tempi extrem zu, um darauf wieder in eine elegische, das Schicksal annehmende Ruhe zu gleiten, was an den legendären Furtwängler erinnert.

Besonders beim Streicherklang fallen die neue Wärme, die nuancierte Klangkultur, ja die zugewonnene Tiefe angenehm auf. Petrenko geht es nicht nur um die klassische Balance, also das wichtige innere Verhältnis der Instrumentengruppen untereinander, sondern um den erzählerischen Faden, das subjektive Empfinden angesichts eines musikalischen Kosmos, eine versuchte Nachschöpfung im Augenblick der Entstehung. Die CD ist eine glühend nachempfundene Momentaufnahme geworden, die Petrenko aber dennoch nicht als „gültig“ bezeichnen würde. Er sieht eine Aufnahme als sehr kurzlebig an, will aber auch den dokumentarischen Wert nicht unterschätzen.

Kirill Petrenko ist ein Probenfanatiker, der der Musik auf den innersten Zahn fühlt und ein Polystilist, der sich in keine Schublade stecken lässt. In den Ecksätzen kehrt er die elektrisch aufgeladenen Leidenschaften hervor, mit Laserstrahlen direkt die Herzkammern des Komponisten ausleuchtend. Wird es wie im Allegro con grazia des zweiten Satzes tänzerisch idyllisch, so lässt Petrenko bei gemäßigten Tempi duftige Aquarellfarben zum Einsatz kommen, nur um beim dramatischen Kern im Finale des musikalischen Seelengemäldes mit dicken Ölfarben spachteldick pastos drauf loszulegen.

Das Geheimnis des erstklassigen künstlerischen Ergebnisses lüften Orchester- und Medienvorstand im Vorwort: “Waren die Proben noch von konzentrierter Arbeit an Klängen, Farben und Phrasierungen geprägt, so herrschte im Moment des Konzerts ein Musizieren vor, das ganz aus dem Augenblick geboren war, voller Hingabe, Energie und Emotion.”

Wie immer beim Label Berliner Philharmoniker Recording ist das Format und Design außergewöhnlich gut gelungen. Zur SA-CD gibt es einen persönlichen Code für ein Audio Download sowie ein Sieben-Tages-Ticket für die Digital Concert Hall. Das Booklet wartet zudem mit hoch auflösendem Fotomaterial und einer nicht nur werk- sondern auch spezifisch aufführungsbezogenen Analyse auf.

Empfehlung!

Berliner Philharmoniker
Kirill Petrenko
Tschaikowski: Symphonie Nr. 6 „Pathétique“
CD kaufen oder nur hineinhören

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