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Der Monat der zeitgenössischen Musik lädt zu Experimenten ein

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Bereits das Eröffnungskonzert überrollte die Zuhörer mit hypnotischen Klangspektren, einem Magma aus Klängen, Formen und Farben und einem Geflecht aus Komposition, Improvisation und Live-Elektronik. Und das war erst der Anfang.

Feuilletonscout sprach mit Lisa Benjes von field notes / inm – initiative neue musik berlin e.V und Leiterin des Programms des Monats der zeitgenössischen Musik.

Feuilletonscout: Der Monat der zeitgenössischen Musik geht in sein viertes Jahr. Wie kam es damals zu der Idee?
Lisa Benjes:
Berlin verfügt über eine der spannendsten Szenen für zeitgenössische Musik weltweit. International hat sich das längst rumgesprochen, nur die Berliner wissen oft nichts von ihrem Glück. So haben sich Künstler*innen, Ensembles und Bühnen zusammengeschlossen, um sich unter dem gemeinsamen Dach des Monats der zeitgenössischen Musik dem Berliner Publikum zu präselntieren.

Feuilletonscout: Wie lief es bisher ab und was ist in diesem Jahr – im Rahmen der Corona-Maßnahmen – anders? Gibt es Veränderungen und wenn ja, welcher Art?
Lisa Benjes:
Tatsächlich haben wir zwischenzeitlich für alle Projekte des Monats der zeitgenössischen Musik mit vier verschiedenen Szenarien gearbeitet. Erst im Juli zeichnete sich klarer ab, welche Bedingungen im September gelten werden. Für die Erstellung von individuellen Schutzkonzepten haben wir Workshops und persönliche Beratungen für alle beteiligten Veranstalter*innen angeboten. Außerdem haben wir gemeinsam Formate entwickelt, die den Schutzmaßnahmen gerecht werden, ohne das Konzerterlebnis zu schmälern.

Feuilletonscout: Was verstehen Sie unter „Corona-Formate“?
Lisa Benjes:
Das sind speziell für die derzeitig geltenden Vorgaben entwickelte Formate. Das Schöne an der Freien Szene ist ja, dass sie so flexibel ist und schnell und kreativ auf neue Gegebenheiten reagieren kann. Um den Vorgaben des Berliner Senats zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu entsprechen, erstrecken sich die Formate von installativen Konzerten, die über einen gewissen Zeitraum von Besucher*innen besucht werden können, über Konzerte im Freien bis hin zu digitalen Angeboten. »Hubraum« von Antje Vowinkel macht vier Autos mit leistungsstarken Bass-Lautsprechern zum zentralen Motiv einer musikalischen Intervention auf den Neuköllner Straßen. Einige Konzerte konnten wir ins Freie verlegen, wie z.B. das Konzert des Bläsertrios Zinc and Copper am 6. September im Körnerpark. Firefly untersucht auf dem Regenbeckengelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof mit Klanginstallationen und Konzerten spekulative Perspektiven zwischen Kunst, Klang und Natur.

Feuilletonscout: Gibt es Beschränkungen bei der Anzahl der Zuschauer/Zuhörer?
Lisa Benjes:
Um Konzerte in Einklang mit Abstandsregeln zu bringen, arbeiten viele Veranstalter*innen mit limitierten Platzzahlen. Die Eröffnung mit der multimedialen Performance »Two Faced« durch das Zafraan Ensemble und der Sängerin Sirje Viise am 28. August 2020 in der Musikbrauereifindet z.B. zwei Mal am Abend statt, um möglichst vielen den Besuch zu ermöglichen. Es lohnt sich dieses Jahr also besonders, früh Tickets zu buchen.

Feuilletonscout: Vieles wird auch im Freien stattfinden. Was machen Sie bei schlechtem Wetter?
Lisa Benjes:
Dafür haben die Veranstalter*innen jeweils individuelle B-Pläne. Sicher ist aber, dass sich nach einem halben Jahr Zwangspause sicher keiner durch Wind und Wetter von der Musik abhalten lässt.

Feuilletonscout: Welches Programm erwartet die Zuschauer?
Lisa Benjes:
Von Echtzeitmusik, Improvisation, Musiktheater und Oper, Klangkunst und Sound Art, Elektroakustik und experimenteller elektronischer Musik ist für alle was dabei.

Feuilletonscout: Wird es digitale Angebote geben? Wenn ja, was?
Lisa Benjes:
Manche Konzerte sind in den virtuellen Raum ausgewichen: Das Sonar Quartett verlegt das Auftaktkonzert seiner neuen Reihe Evolution am 23. September in den virtuellen Raum und greift mit einem Essay-Konzert-Film die aktuelle Situation auf. LUX:NM gibt am 24. September zusammen mit der WITCH ´N´MONK ein virtuelles Konzert zwischen komponierter und improvisierter Musik. Für unser Symposium »Curating Diversity« am 25. September haben wir uns ein hybrides Format ausgedacht. Gerade in Zeiten beschränkter internationaler Begegnungen und nationalistischer Strömungen war es uns wichtig, ein Format zu finden, das eine internationale Beteiligung ermöglicht, um den Diskurs über Diversität in der zeitgenössischen Musik in Europa lebendig zu halten. Aus Keynotes von Du Yun und Sandeep Bhagwati gehen Panels zu Emanzipation, Dekolonisation und Raubmusik hervor. Man kann sich sowohl in der Akademie der Künste am Pariser Platz einfinden als auch online unter: www.sounds-now.eu zuschalten.

Feuilletonscout: Im Rahmen des Veranstaltungspunktes „Curating Diversity“ sprechen Du Yun und Sandeep Bhagwati. Wer sind sie und welche Panels werden angeboten?
Lisa Benjes:
Du Yun ist eine Komponistin, Multiinstrumentalistin und Performancekünstlerin. Sandeep Bhagwati ist ein Komponist, Künstler, Kurator und Autor. Beide zeichnen sich durch ihre theoretische wie künstlerischer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Musikkulturen aus.

Feuilletonscout: Auf Ihrer Website sprechen Sie von „neuer Normalität“. Sollte man wirklich von „Normalität“ sprechen? Was verstehen Sie darunter? Ist es nicht eigentlich eher eine „Unnormalität“?
Lisa Benjes:
Das Virus wird wahrscheinlich noch lange Teil unseres gesellschaftlichen Lebens bleiben und die Organisation von kulturellen Veranstaltungen prägen. Der Ausnahmezustand ist zum Dauerzustand geworden und geltende Regeln sind weitestgehend in Fleisch und Blut übergegangen. Das Einhalten von Abstandsregeln oder das Tragen einer Maske sind zur Gewohnheit geworden – beim Einkauf genauso wie im Konzertbetrieb.

Feuilletonscout: Sehen Sie diesen Monat auch als Chance, nicht eine „neue Normalität“, sondern wieder eine „normale Normalität“ herzustellen?
Lisa Benjes:
Klar kann man das so sehen. Wir reden ja von einer Wiederherstellung oder Rückkehr in das Kulturleben. Daher verstehen wir die Maskenpflicht nicht als Einschränkung, sondern sind dankbar dafür, dass sie es uns erlaubt, das Kulturleben wieder aufleben zu lassen. Man kann sich übrigens auf unserer Website kostenfrei extra gestaltete Masken bestellen, damit unsere Besucher*innen nicht nur sicher, sondern auch stilvoll durch den Monat der zeitgenössischen Musik kommen.

Feuilletonscout: Welche Veranstaltungsorte werden Sie bespielen?
Lisa Benjes:
Die Freien Szene der zeitgenössischen Musik, deren Ensembles, Konzertreihen und Festivals führen eine eigentümlich ortlose Existenz ohne den einen festen Konzertsaal. Daher bespielt der Monat der zeitgenössischen Musik unter anderem den Acker Stadt Palast, acud macht neu, Akademie der Künste, ausland, Corvo Festival, Errant Sound, exploratorium berlin, Floating University, KM28, Körnerpark, Kulturbrauerei, Kontraklang, Konzerthaus Berlin, KuLe, Meinblau Projektraum, Musikbrauerei, Musikfest der Berliner Festspiele, Philharmonie, Pyramidale, radialsystem, singuhr – projekte, Schwarzsche Villa, Spor Klübü, Spreehalle Berlin, St. Matthäus-Kirche, Studio Ohrpheo, Unerhörte Musik, Villa Elisabeth, Wabe, uvm.

Feuilletonscout: Wer sind die ausführenden Künstlerinnen und Künstler? Woher kommen sie?
Lisa Benjes:
Viele der Gruppen wie das Ensemble Adapter, das ensemble mosaik, ensemble unitedberlin, Kairos Quartett,  LUX:NM, Maulwerker, modern art ensemble, Reanimation Orchestra, Sonar Quartett, Splitter Orchester, Vocalconsort Berlin, Zinc & Copper, Zafraan Ensemble, sind aus Berlin. Andere kommen extra aus Deutschland angereist. Leider mussten einige Konzerte mit internationalen Künstler*innen und Formationen aufgrund der Reisebeschränkungen abgesagt werden. Allerdings ist die Berliner Szene an sich schon bemerkenswert international, da hier Künstler*innen aus aller Welt einen produktiven Nährboden finden. Das spiegelt sich auch im Programm nieder.

Feuilletonscout: Wen möchten Sie mit dem Monat der zeitgenössischen Musik ansprechen?
Lisa Benjes:
Mit dem Monat der zeitgenössischen Musik möchten wir all jene ansprechen, die Freude am Experimentieren haben. Viele Programmpunkte laden das Publikum explizit zum Dialog ein und ermöglichen eine aktive Beteiligung an der Musik, ihren Themen, Diskurs- und Denkräumen. Wir möchten, dass sich die Stadtbevölkerung in unserem Publikum abbildet.

Feuilletonscout: Braucht man Vorkenntnisse über zeitgenössische Musik, wenn man zu den Veranstaltungen kommt?
Lisa Benjes: Freude an der zeitgenössischen Musik zu haben, ist weniger eine Frage der Vorkenntnisse als eine Frage der Einstellung. Man muss bereit sein, sich auf ungewohnte Klänge einzulassen und offen genug sein, um eigene Zugänge und Verknüpfungen zu finden. Das gilt aber letztlich für alle zeitgenössischen Künste. Natürlich erfordert es etwas Risikobereitschaft, Tickets für ein Konzert mit drei Stücken, die noch nie vorher aufgeführt wurden, zu kaufen. Es besteht immer die Möglichkeit, dass mindestens eines der Stücke nicht gefällt. Das allerdings als erste*r beurteilen zu können, ist aber ein großes Glück. Zumal ja auch gleichermaßen die Möglichkeit besteht, dass alle drei neuen Werke Musikgeschichte schreiben!
Dann gibt es natürlich Veranstaltungen, die niedrigschwelliger oder ansprechender sind als andere. Das Programm ist auch in dieser Hinsicht recht breit gefächert. Abgesehen davon ist es natürlich immer ein schönes Erlebnis, wenn einem Wissen Assoziationsräume öffnet. Dafür bietet der Monat der zeitgenössischen Musik ein Rahmenprogramm an, dass Hintergrundwissen vermittelt. Dazu gehören diverse Komponist*innengespräche, Kurator*innen-führungen sowie Werkstattveranstaltungen, die Einblicke in Entstehungsprozesse bieten und zum Mitmachen einladen. Das Projekt »Schrumpf!« bringt Neue Musik, Performance und Installationen auch einem jüngeren Publikum nah, ist aber für Erwachsene gleichermaßen anregend.

Feuilletonscout: Welches sind Ihre persönlichen Highlights?
Lisa Benjes:
Lieblinge gibt es nicht, alle sind toll. Ich freue mich sehr auf die Eröffnung mit dem Zafraan Ensemble in der Musikbrauerei. Auch auf die Kissas freue ich mich, mit denen der Monat der zeitgenössischen Musik dieses Jahr die spannendsten Labels der experimentellen Musik in Berlin präsentiert. Das Musiktheater Breakfast Opera von den legendären Maulwerkern über das Frühstücken in verschiedenen Teilen der Welt wird toll. Das ensemble mosaik legt bei UpToTen den Fokus auf das Thema »Performance und Visuals«. Bei der Unerhörten Musik widmet sich der Kontrabassklarinettist Theo Nabicht mit der herausragenden Komponistin Iris ter Schiphorst der Frage nach der Aufgabe von Musik. Das Splitter Orchester feiert sein 10-jähriges Bestehen mit einer dreiteiligen Konzertreihe in der Wabe. »Vertical Railway« von Christina Ertl-Shirley arbeitet den Fahrstuhl künstlerisch auf und betrachtet ihn insbesondere in seiner musikalischen Dimension. WITCH ´N´MONK und LUX:NM vereinen Avantgarde, zeitgenössische Musik, lateinamerikanische »Folktronica« und experimenteller Jazz in Arrangements und verwenden Video Scores als Medium für fluide Gemeinschaftskompositionen.

Feuilletonscout: Welche Pläne haben Sie mit dem Festival?
Lisa Benjes: Wir sind ausgesprochen froh, dass sich der Monat der zeitgenössischen Musik so schnell entwickelt hat. Wir begehen erst die vierte Ausgabe und schon hat sich der Monat fest in die Konzertplanung der Szene etabliert. Mit jedem Jahr möchten wir mehr Berliner*innen in die Musik involvieren, unsere Beziehung zu unserer Publikumsbasis vertiefen und mit ihnen die Szene von morgen gestalten.

Vielen Dank für das Gespräch, Lisa Benjes!

Monat der zeitgenössischen Musik Berlin
Vom 28. August bis 30. September 2020

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