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Die Antwort auf Corona: Nick Cave & Warren Ellis „Carnage”

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Nick Cave und der Multiinstrumentalist Warren Ellis veröffentlichen Aufnahmen aus der Zeit des Lockdowns. Rezension von Ronald Klein.

Normalerweise begibt sich Nick Cave morgens in sein Büro, wo er pünktlich ab neun Uhr am Schreibtisch sitzt und Songs schreibt. Doch mit der Corona-Pandemie und dem damit verbundenen Lockdown sah der gewohnte Tagesablauf plötzlich anders aus. Cave fand sich lesend auf dem heimischen Balkon wieder. Er verfasste Song-Skizzen, die meiste Zeit ging aber dafür drauf, „über Dinge nachzudenken“, wie der Australier lakonisch sagt.

Ins Studio ging er schließlich ohne konkretes Ziel, sondern um mit Warren Ellis zu jammen. Cave und Ellis sind langjährige Weggefährten. Die beiden schrieben zahlreiche Theater- und Filmscores, rocken mit ihrer Formation Grinderman – vor allem aber wirkt Multiinstrumentalist Ellis seit 1994 bei den Bad Seeds mit, die zuletzt eine klangliche Metamorphose durchmachten. Das siebzehnte Studioalbum „Ghosteen“ (2019) ist der Schlusspunkt einer Trilogie, die sich mit der Trauer in Folge des Unfalltod von Caves Sohn auseinandersetzt. Den Klang prägen analoge Synthesizer, Bandschleifen und Ambient-Flächen. Für die Mischung zeichnen Cave und Ellis verantwortlich.

Ihre erste Platte als Duo setzt ästhetisch dort an, wo „Ghosteen“ endete. Gemeinsam loten die beiden aus, wie sie sich von den Songdramaturgien entfernen können, die jahrzehntelang Nick Cave & The Bad Seeds repräsentierten. Das heißt, mehr Raum für die Improvisation und weg vom narrativen Storytelling. Der Opener ,Hand Of God‘ klingt vertraut und ungewohnt zugleich. Ellis‘ Violine umarmt ein eindringlicher Beat, während Cave gewohnt ausdrucksstark und eindringlich seine Verse intoniert. Der Refrain besteht aus der stakkatoartigen Wiederholung des Titels ,Hand Of God‘, die Gesangsspur, die schließlich choral erklingt, tritt in den Dialog mit Caves Vocals. Ein weiteres bekanntes Element erklingt anschließend auf ,Old Time‘: der Anschlag der Tasten des Flügels ist jedoch nur ein akustischer Farbtupfer neben Elektronik und Ellis‘ Violinspiel. Wundervoll kontemplativ geht es auf ,Lavender Fields‘ zu, dessen Perspektive jedoch weg von der Natur nach innen führt und damit exemplarisch für das introspektive Album ist. Zwar fanden einige der Songs ihre finale Struktur erst in der Mischung, die Studiozeit betrug jedoch gerade einmal zweieinhalb Tage. Bei ,Shattered Ground‘ reichte gar ein Take.

Dass das Ergebnis derart dicht und organisch klingt, ist der Vertrautheit der beiden Musiker und ihrer Entscheidung zu verdanken, neue Wege zu beschreiten. Es handele sich um „eine brutale, aber wunderschöne Aufnahme, eingebettet in eine gemeinschaftliche Katastrophe“, reflektiert Cave.  Die Platte klingt mit ,Balcony Man‘ aus. „I’m the balcony man, I’m Fred Astaire, I put on my tap dancing shoes”, singt der Australier. So schließt sich der Kreis und man beginnt „Carnage“ von vorne zu hören. Wieder und wieder.

Nick Cave & Warren Ellis
Carnage
Goliath Records 2021
bei amazon auf CD oder Vinyl

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