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Bayreuther Festspiele 2023: Der neue Blick, die alte Mär? „Parsifal“ , Teil 1

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richard wagner porträt

Von Barbara Röder.

Der analoge und virtuelle Blick ins Bayreuther Richard Wagner-Universum 2023: Die Neuinszenierung des Bühnenweihfestspiel “Parsifal“ von Jay Scheib gerät zur erhellenden, visuell vielschichtigen Erlebnisfahrt durch Raum und Zeiten.

330 der fast 2000 Gäste waren mit der schwarzen Augmented-Reality-Brille, der sogenannten AR-Brille ausgestattet, der Rest muss sich noch bis nächstes Jahr gedulden. Das schwarze AR-Teilchen wog schon einiges, drückte auch ein wenig am Nasenflügel, lag aber wohlig warm in der Hand. Wer unter den AR-Guckern hindurch lugte oder sie absetzte, war analog in Bilde. Ein innovatives Experiment, das Regisseur Jay Scheib sowie sein AR und Video Designer Joshua Higgason und die Kostümfrau, Meentje Nielson uns anbieten und das technisch absolut gelang. Scheibs Regie steht für die, zum einen traditionelle Haltung zur Bewahrung der Werktreue und zum anderen für die experimentierfreudige, aufgeschlossene, geistige Haltung auf dem Grünen Hügel.

© Bayreuther Festspiele

Das auditive „Parsifal“-Fest, das Dirigent Pablo Heras-Casado im Bayreuther Festspielhaus entfacht, ist ebenso einzigartig. Heras-Casados Dirigat verleiht dem Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ fein geistige, hoch sinnliche, transzendentale Dimensionen. Ihm gelingt ein großer Wurf, den er und das Festspielorchester aus dem mystischen Graben heraus zelebrieren. Heras-Casado jongliert gut überlegt die musikalisch ausgedehnten Spannungsbögen, gestaltet die, fast zum Atemstillstand drängenden Tempi sowie makellose, weihevolle, aus dem Urgrund der Partitur heraus pulsierende, schwebende Klang- und Seelenzustände. Heras-Casado ist ein Celebidache der Oper.
Das passt alles zu Scheibs zeitgeistigem „Weltraum-Schwebe-Experiment“ und katapultiert die Bayreuther Festspiele 2023 zwingend zum Wagnis wagenden Augmented-Reality-Kosmen-Vorreiter, zum Zeitgeist-Einfänger ganz im Sinne Richard Wagners. Festivalchefin Katharina Wagner ist eine mutige, in die Zukunft blickende Frau mit Visionen für Bayreuth.

Die Gralsritter mit Gurnemanz (Georg Zeppenfeld)  und  Elīna Garanča (Kundry) erkennen Ihr Schicksal und lauschen auf Gurnemanz.
Margaret Plummer, Betsy Horne, Jorge Rodríguez-Norton, Garrie Davislim (© Enrico Nawrath – Bayreuther Festspiele)

„Um Wagner zu finden, reiste ich nach Bayreuth. Ich war fasziniert von seinem Leben, seinen Tiefen und Höhen Groß und Klein, glänzenden, immer absonderlichen, gänzlich unbürgerlichen, extrem egoistischen, frechen Leben, voll Verachtung der Konventionen, der Gesellschaft in der er lebte.“ So beginnt das wundersame, mich seit vierzig Jahren begleitende Essay des Nachkriegs-Reisejournalisten und Dichters Wolfgang Koeppen. Die Verwandlung der Stadt Bayreuth während der Festspielzeit, mit seinem „Jupiter Richard Wagner, der als neuer Mensch, eine neue Musikwerkstatt, vielleicht sogar im Sinne Schillers eine moralische Anstalt baute“, fährt Koeppen fort, galt es für den streitbaren Poeten damals zu erkunden. Koeppen erlebte 1972 die Neuinszenierung des „Parsifal“ in Bayreuth, hundert Jahre nach dessen Uraufführung an der gleichen Wirkungsstätte. „Erwartungsvolle Herzbeklemmung“ überfiel Koeppen beim Betreten des Festspielhauses. „Andächtige Stimmung. In der Pause nur eine Meinung. Parsifal. Er ist schön und strahlt“, fabuliert er. Das hätte ich gerne erlebt, denn die Stimmungen werden durch Koeppens prägnante Erzählung lebendig. In Götz Friedrichs hundertjähriger „Parsifal“—Introspektion war Klingsor 1972 ein Atomforscher, die Blumenmädchen waren im freizügigen Bikini-Schick der Siebziger Jahre gekleidet oder fast nicht gekleidet. Die Emanzipation der Frau nahm Fahrt auf, war in aller Munde. Der dritte Akt des „Jahrhundert-Parsifal“, beschwor das weihevolle Bühnenspektakels ein buntes Endzeitszenarium. Ich sah zeitgleich Ruth Berghaus‘ abstrakten Frankfurter „Parsifal“, der in der Gielen Ära für Furore sorgte und lange im Spielplan blieb. Ich wurde neugierig auf den Gesamtkunstwerk-Kosmos Richard Wagners und bin es geblieben. Seitdem reise ich mit Unterbrechung ebenfalls nach Bayreuth, um Wagner zu finden.
 

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Andreas Schager (Parsifal) & Elīna Garanča (Kundry) im verführerischen Umkreisen des Anderen
© Enrico Nawrath – Bayreuther Festspiele

Ein kurzer Blick zurück

Zeitgeist einst! Zeitgeist heute! Im gelebten Jetzt wirken andere Kräfte bei den Bayreuther Festspielen: Die „Augmented Reality -Vision-Inszenierung“ mit AR-Brille von Regisseur Jay Scheib spricht zu uns.

Götz Friedrich sah das letzte Bühnenwerk Wagners als dramatisch-philosophisches, theatralisches Endspiel, welches dem 19. Jahrhundert ebenso verbunden wie der Reflexion des Zukünftigen. Diesen Gedanken finden wir kongenial in unsere heutige Epoche transferiert. Jay Scheib, Regisseur des aktuellen Bayreuther „Parsifal“, der „mithilfe der AR-Brille das reale Bühnengeschehen um Welten, die am Computer erzeugt werden, erweitern will“, so der Regisseur, endet im letzten Akt ebenfalls in einer apokalyptischen Endzeit. Eine, die wir Menschen durch die Ausbeutung unseres Lebensraums, unseres Planeten gravierend mit verursacht haben. Das ist die Schuld, die auf dem Rücken wiegt, in den Seelen der Ressourcen-Räuber Heimat gefunden hat und sie vollkommen ausbrennen wird. Wenn „Parsifal“ erscheint, hat dieser symbolisch eines der wenigen Kreaturen getötet. Der unbewusst handelnde, reine Tor, ist einer, der den Blick nur auf sich und seine Bedürfnisse gerichtet hat. Er wird durch die Reisen in Klingsors scheinbar heile Welt und durch die Begegnung mit Kundry, die ein verlorenes, herumirrendes Geschöpf ist, zum Seher und zu einem, der fühlt, was Mensch, Tier und Umwelt braucht zur Heilung.

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Endzeitstimmung im Gralshüter-Land © Enrico Nawrath – Bayreuther Festspiele)

Die Kraft zur Veränderung, Verwandlung, so interpretiert es Jay Scheib, schöpft der geläuterte „Parsifal“ durch das Lieben. Eines, das nicht vom Eros beherrscht ist, sondern vom Mitleid und Empathie für das Gegenüber heraus, Verwandlung erfährt. Deshalb erlangt „Parsifal“ nur an der Seite Kundrys, die mit ihm gemeinsam am Ende des dritten Aktes im verseuchten Grals-See steht und durch deren Augen er das Sehen hinter den Masken gelernt hat, in eine heilvolle, wenn auch noch immer unerlöste, zu rettende Welt. Dem Istzustand heißt es, den Blick zuzuwenden. Liebend, wissend und ein wenig erstarrt.  

Die Zitate von Wolfgang Koeppen wurden dem Artikel „Walhall und die Eremitage der Marktgräfin“  aus der Serie „Bilder und Zeiten“ der FAZ vom 6. August 1983 entnommen.

Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.

Bayreuth Festival 2023: „The New Perspective, the Old Tale?“
The Bayreuth Richard Wagner Universe in 2023 offered a blend of analog and virtual experiences through the reimagined production of the stage consecration festival play „Parsifal,“ directed by Jay Scheib. This production emerged as an enlightening journey, interwoven with visual layers that spanned space and time. Out of nearly 2000 attendees, 330 were equipped with the black Augmented Reality (AR) glasses, while the rest would have to wait until next year. The weighty black AR device rested comfortably in the hand, offering an innovative experiment that seamlessly blended traditional fidelity to the work with a daring, open-minded approach on the Green Hill.

In the Bayreuth Festival House, conductor Pablo Heras-Casado brought forth a unique auditory experience with his rendition of the „Parsifal“ festival. His orchestral direction added ethereal and transcendent dimensions to the play, conjuring spiritual and sensual qualities. Heras-Casado masterfully navigated the expansive musical arcs, skillfully handled the tension-building tempos, and breathed life into the pulsating, ethereal soundscapes rooted in the score’s essence. His conducting showcased a profound understanding of the opera’s essence.

These elements seamlessly aligned with Scheib’s contemporary „space-floating experiment,“ propelling the Bayreuth Festival 2023 to become a pioneering force in augmented reality and a true reflection of the spirit of Richard Wagner. Festival director Katharina Wagner displayed a visionary courage, steering the festival towards the future.

The transformation of Bayreuth during the festival season, described by post-war travel journalist and poet Wolfgang Koeppen, highlighted the city’s evolution as Wagner’s moral and musical institution. The historical context resonated in Koeppen’s recollections of the 1972 „Parsifal“ revival, capturing the changing times. Similarly, Jay Scheib’s AR-driven production resonated with the zeitgeist, projecting Wagner’s message into the contemporary era.

Scheib’s modern vision interplays with Götz Friedrich’s interpretation, both seeing Wagner’s final work as a dramatic-philosophical masterpiece bridging past and future. Scheib’s incorporation of augmented reality aligns beautifully with the thematic core of the play, emphasizing the importance of transformation and love as paths toward healing. Through the character of Parsifal, Scheib depicts a journey from self-focus to empathy, ultimately leading to a world that can be saved through understanding and love.

In a symphony of tradition and innovation, the Bayreuth Festival 2023 echoes Wagner’s essence while embracing the technological advancements of the modern age. As the AR-enhanced „Parsifal“ takes its place, it melds the historic with the futuristic, inviting audiences to witness a world in transformation.

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