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Gleichwertigkeit und Toleranz

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Der Maler Arthur Segal gibt uns eine Handreichung zum respektvollen Umgang.
Ein Essay von Martin Schmidt.

In Zeiten der verfestigten Meinungen und der Unerbittlichkeit, mit der Standpunkte als unverrückbar markiert werden, kommt uns bisweilen eine Hilfestellung von unerwarteter Seite entgegen, die uns an den unverzichtbaren Wert der Toleranz erinnern kann.

Es war die Katastrophe des 1. Weltkrieges, die dem aus Rumänien stammenden und in Berlin heimisch gewordenen Maler Arthur Segal (1875-1944) den Glauben an die Wirksamkeit der Kunst austrieb. Er beschreibt in seinem 1927/28 publizierten Vortrag „Mein Weg der Malerei“ seine tiefe Enttäuschung, die er in dieser Zeit durchlebte:

„Damals war ich der Kunst böse, dass sie den Krieg nicht verhindern konnte und betrachtete ihr Wirken als bankrott. Ich verlor die innere Beziehung zu ihr, da mir ihre ethische Notwendigkeit nicht mehr einleuchtete.“ Es zeugt von einem ungeheuren Anspruch, der Kunst solche Wirkungsmacht abzuverlangen, aber er ist nicht untypisch gewesen für die Kunstströmungen des frühen 20. Jahrhunderts, die wir unter dem Begriff der Moderne zusammenfassen. Kaum jemand allerdings war so konsequent wie Segal, der dann für einige Zeit die Malerei ohne große Ambitionen nur als liebgewordene Übung weiterbetrieb, weil es ihm, wie er sagte, Freude mache, Farben nebeneinander zu setzen. Für ihn war klar, dass eine Kunst, die nicht in die Gesellschaft wirkt, sinnlos ist. In den Jahren dieser Legitimationskrise wandte sich der Maler dem Schreiben zu und beschäftigte sich mit Philosophie und Religion. Er erkannte, „dass der Drang des Einzelnen oder der Völker, sich den anderen gegenüber überzuordnen, sich als wichtiger zu betrachten, eine der Hauptursachen der Konflikte ist“. Diese Erkenntnis ist weniger überraschend als der Schluss, den Arthur Segal daraus zog. In einer Rückübertragung auf die Künste sah er für sich, dass deren Kompositionsgesetze, die einen Teil als wichtiger und einen anderen als unwichtiger klassifizieren, eine wertende Einstellung begünstigen bzw. aktiv fördern. Und dass die Kunst darum Konflikte sogar „herausfordert und predigt“. Segals Konsequenz dieser Schlussfolgerung gipfelte in dem Versuch, seiner Kunstpraxis das Werten abzugewöhnen, denn: „Die Verherrlichung des Helden ist das Werk oder die Konsequenz des Wertens.“ Das Heroische war Segal zutiefst suspekt, weil er es mit dem Bankrott einer vermeintlich zivilen Gesellschaft verband, die sich ihrer Mitverantwortung entledigte und die Entscheidungsgewalt allzu bereitwillig den militärischen Eliten überlassen hatte. Und es ist ja wahr, die Herausgehobenheit des Helden lebt von der Subordination der anderen. Ist das erstrebenswert? Heute, wo der deutsche Verteidigungsminister Pistorius meint, wir müssten „kriegstüchtig“ werden, zeigt das Denken des Künstlers uns einen anderen Weg auf.

arthur-segal

Aus Anschauung und Überlegung entwickelte Arthur Segal für seine Malerei die Gleichwertigkeitstheorie. Für die Praxis des Bildermachens bedeutete das, keinen Teil des Ganzen bevorzugt zu behandeln. Die Aufteilung der Bildfläche in gleichgroße Rechtecke, die Größengleichung verschiedener Gegenstände und eine eher kühle und reduzierte Farbgebung, die eine optische Ganzheit unterstützt, sollten wegführen von einer Kompositionsweise, die Objekte als wichtig oder unwichtig wertet. Auch wenn wir der Anwendung dieser Theorie eine Reihe faszinierender Bilder aus Segals Hand verdanken, lässt sie sich wahrnehmungspsychologisch nicht eindeutig bestätigen. Das liegt unter anderem an der Unterschiedlichkeit der Augenpaare, die diese Gemälde betrachten. Auch Segals gleichwertige Malerei kann nicht verhindern, dass sich der Blick an der einen oder anderen Stelle festsetzt und somit eine durchaus abgestufte Dominanz der Bildteile belegt bzw. sich die Individualität des Schauenden auf der Bildfläche Angelpunkte sucht, an denen der Blick verweilen kann.

Entscheidend für unsere Überlegungen ist aber hier weniger die Stringenz der Theorie als die Geisteshaltung, der sie entspringt. Es ist der Wert der Toleranz, den Arthur Segal hier beschwört. Sie ist allen und allem entgegenzubringen und sie ist nicht gleichzusetzen mit einer indifferenten Sicht auf die Welt.

Unsere Gegenwart krankt an unserem zunehmenden Unvermögen, Differenzen und Dilemmata anzuerkennen und auszuhalten. Die Fragmentierung des Gemeinsamen durch die immer schneller erfolgenden Verlautbarungen in den sogenannten sozialen Medien, die mit wirklicher Kommunikation nicht mehr viel zu tun haben, macht es der Idee von einem großen Ganzen, für das wir alle Verantwortung tragen, zunehmend schwerer. Immer wieder werden wir aufgefordert, uns zu bekennen und eine „klare Haltung“ gegenüber dieser oder jener Sache einzunehmen. Damit ist allerdings oft gemeint, sich auf eine Seite zu schlagen. Klarheit ist aber nicht gleichzusetzen mit einseitiger Parteinahme. Und eine differenzierende Betrachtung darf nicht mit Standpunktlosigkeit verwechselt werden. Die Ergebnisse solcher Betrachtungen müssen wir in ihrer möglichen Widersprüchlichkeit aushalten.

Wir können etwa das Selbstverteidigungs- und damit Existenzrecht Israels anerkennen, ohne die durch seine Kriegsführung gegen die Hamas im wahren Wortsinn ausweglos gewordene Lebenssituation der Palästinenser im Gazastreifen zu bestreiten, die schon vorher in so vielem limitiert war. Auch wenn eine Zweistaatenlösung in weiter Ferne liegt, ist der Versöhnungsgedanke, der ihr zugrunde liegen muss, davon getragen, die Menschen als gleich-wertig zu betrachten und keiner Volksgruppe den Vorzug gegenüber einer anderen zu geben. Nehmen wir ein anderes Beispiel. Die russische Aggression gegen die Ukraine wird nicht dadurch relativiert, dass natürlich auch russische Soldaten unter diesem Krieg leiden und es sicherlich die gibt, die sich weder mit den Zielen dieser „Militäroperation“ identifizieren noch der sie begleitenden Propaganda erliegen. Und auch das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine stellen wir nicht dadurch in Frage, dass wir Friedensverhandlungen für eine sinnvolle Lösung halten, um die Eskalation gegenseitiger Gewalt zu beenden.

Es ist also wichtig, darauf zu bestehen, sich von niemandem in eine unfruchtbare Entweder-oder-Haltung zwingen zu lassen. Es ist sehr wohl möglich, das eine zu tun, ohne das andere auszuschließen. Oft werden wir nicht weiterwissen und gangbare Wege nicht in Sicht sein, aber das heißt nicht, die Suche danach aufzugeben, und es sollte unsere Skepsis nicht mindern gegenüber allem Gerede von „Alternativlosigkeit“. Wir müssen unsere grundsätzliche Fähigkeit zu respektvoller Kommunikation pflegen und dürfen sie nicht kleinlicher Rechthaberei opfern.

Bildbeispiel für die Gleichwertigkeitsanwendung „Helgoland“:

Kehren wir zu Arthur Segal zurück, dem jüdischen Künstler, der wie so viele 1933 notgedrungen Deutschland verließ, um nach Mallorca zu gehen, wo er drei Jahre später wiederum vor den Faschisten, diesmal den spanischen, fliehen musste. Gleichwertigkeit in seinem Sinne bedeutet, das Existenzrecht für den einen wie den anderen anzuerkennen, das Kleine nicht geringer zu schätzen als das Große.

Als der menschenfreundliche Maler mithilfe der Gleichwertigkeit zur Kunst zurückfand, konnte er feststellen: „Ich sehe jetzt ohne Mühe die Dinge koordiniert, und nicht mehr sub- oder superordiniert.“ Dabei half ihm seine tolerante Haltung, die eine erstrebenswerte bleibt: „Ich will niemandem meine Ideen aufzwingen, denn obwohl ich meine Ideen als für mich wichtig und charakteristisch betrachte, so bin ich dadurch nicht gehindert auch noch so entgegengesetzte Anschauungen anderer zu respektieren und als für sie notwendig zu betrachten. Jede Individualität rechtfertigt durch sich selbst ihre Notwendigkeit und hat ihre Berechtigung ohne dadurch die Notwendigkeit einer anderen Individualität und ihre Berechtigung bestreiten zu können.“

Es tut not, dass wir uns (wieder) mit solchem Respekt begegnen.

(alle Zitate aus: Arthur Segal: Mein Weg der Malerei. Aus einem Vortrag. In: Internationale Revue 1927-29, hrsg. von Arthur Müller Lehning, Amsterdam 1978 [=Kompilation der kompletten Jahrgänge])

Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.

2 Gedanken zu „Gleichwertigkeit und Toleranz“

  1. Die ausgeführten (gesellschafts-) politischen Überlegungen kann ich sofort teilen und nachvollziehen und denke in vielen Bereichen genauso. Diese Gedanken auf eine „gleichwertige Kunst“ zu übertragen, finde ich außerordentlich schwierig. Im Falle zum Beispiel eines Bildes finde ich es gar nicht erstrebenswert, alle Teile als gleichwertig zu sehen oder darzustellen – im Gegenteil: ich finde Gemälde wesentlich spannender, wenn sie ein Zentrum, einen Blickfang, eine Linie o.ä. haben, dem/der man beim Betrachten zunächst einen Vorzug gibt – freilich ohne den Rest zu übersehen oder gering zu schätzen. So gesehen mag diese Theorie dem Maler geholfen haben – mich überzeugt sie in der Kunst eher nicht. Toleranz und Respekt sind allerdings tatsächlich in der menschlichen Gesellschaft auf dem Rückzug; wir hätten sie bitter nötig.
    Herzliche Grüße und Danke für den Denkanstoß!

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  2. Ich teile diese Ansicht persönlich und praktiziere sie selbst. Sie ist nicht immer einfach durchzuhalten und für Gruppen leider nicht praktikabel. Es kommt hier auf das Individuum an und die Summe solcher Individuen wäre dann eine friedfertige Gruppe.
    Danke für den interessanten und bedenkenswerten Artikel.

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