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Machismo und Femizide in Brasilien

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Vom 19. bis 21. Mai 2022 beschäftigt sich das Festival „Frequenzen. Feminismen Global“ mit den Themen Widerstand und Protest von Frauen weltweit, Diskriminierung, Asymmetrien der Macht und Gewalt sowie sich wandelnde Rollenbilder. Feuilletonscout-Autorin Birgit Koß stellt passend zum Thema zwei Bücher aus Brasilien vor, die sich mit der Gewalt an Frauen im Land der Samba-Rhythmen auseinandersetzen.

Immer wieder höre ich aus meinem Bekanntenkreis die Frage, wie ich es aushalte, über so viele grausame Themen zu lesen. Da geht es häufig um Unterdrückung, Gewalt, Kriege, Mord. Wer, so wie ich, wenig davon persönlich erlebt hat, kann sich glücklich schätzen. Mein Interesse an Romanen zu diesen Themen ist nicht voyeuristischer Natur. Ich möchte das Leben und die Geschichte in den verschiedenen Ländern und Kulturen in ihrer Vielfältigkeit kennenlernen. Leider gehören diese Gräueltaten in vielen Ländern der Erde zum Alltag. Heute geht es in zwei Romanen um den Machismo in Brasilien und seine Folgen für die Frauen in ihrer ganzen Grausamkeit.

Tatiana Salem Levy erzählt in ihrem Roman „Vista Chinesa“ die Geschichte ihrer Freundin Joana. Diese wurde 2014 beim Joggen in Rio de Janeiro brutal vergewaltigt. Vier Jahre später spricht sie mit der befreundeten Autorin über dieses Geschehen, obwohl sie sich vorher dazu entschlossen hatte, einen Schlussstrich unter die ganze Geschichte zu ziehen und sie im privaten Kreis zu lassen. Tatiana Salem Levy bearbeitet die Informationen ihre Freundin in Form eines Romans, der auf wahren Begebenheiten beruht. Sie wählt dazu formal einen Brief, den die vergewaltigte Frau später an ihre Kinder schreibt, um der „Wahrheit“ genüge zu tun.

Wir erfahren neben Joanas grausamer Erfahrung etwas über den Ablauf der Tat, die Folgen, die Reaktionen von Freunden und Familie und der Polizei. Immer wieder springt die Autorin in den Zeitebenen, dehnt sie und vertieft einzelne Aspekte. Sie blickt zurück auf das Geschehen, zeichnet ein Bild der Protagonistin vor der Tat als selbstbewusste junge Architektin, die täglich auf dem Weg zum Aussichtspunkt Vista Chinesa zum Joggen geht. Dazwischen schiebt die Autorin das weitere Empfinden Joanas ein. Ihre absolute Hilflosigkeit dem Drängen der Polizei gegenüber, einen Täter zu identifizieren. Ihre Angst, einen „falschen“ Mann zu belasten, nur damit die Polizei den Vorgang endlich erfolgreich abschließen kann. Und immer wieder die Fragen, was ist Erinnerung, was wurde verdrängt, was bleibt für immer.

Behutsam nimmt die Autorin ihre Leserschaft mit auf diesen schweren Weg, setzt Akzente dehnt und verdichtet die Handlung und findet Worte für das kaum Aussprechbare. So zeigt Tatjana Salem Levy, eine der bedeutendsten Gegenwartsautorinnen der brasilianischen Literatur, was es heißt, den Verstörten und Verstummten eine Stimme zu leihen und dadurch ein Mitfühlen zu ermöglichen. Erstmals wurde ein Roman von ihr ins Deutsche übersetzt und wie immer stilvoll vom Secession Verlag gestaltet. Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme des Regenwalds zieht sich durch das Buch perspektivisch, als würde man auf dem Rücken liegen und nach oben schauen. Doch dann bei der Einleitung der zwei Kapitel fehlt das Mittelstück – stattdessen ein weißer Balken, und danach nur noch der schmale Streifen, als Sinnbild von Reduktion und Einengung der Perspektive durch das dramatische Geschehen.

Cover: Secession Verlag

Tatiana Salem Levy
Vista Chinesa
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2022
bei amazon
bei Thalia

Die zweite bedeutende brasilianische Autorin ist Patrícia Melo aus São Paulo. Ihr sozialkritisches Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Drehbüchern, Hörspielen und Theaterstücken, widmet sich vorwiegend der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Diesmal geht es um Femizide, also den Morden an Frauen, begangen von Tätern aus ihrem direkten Beziehungsumfeld. Ein weltweites Problem, dem in Deutschland circa 3 Frauen pro Woche zum Opfer fallen, in Brasilien sind es 11 Frauen pro Tag!

Die Protagonistin und Ich-Erzählerin ist eine junge Anwältin aus São Paulo. Ihr Freund Amir ist charmant, gutaussehend und bringt sie zum Lachen. Doch bei einer Party wird er eifersüchtig, gibt ihre eine Ohrfeige und nennt sie „Schlampe“. Er ahnt nicht, dass er damit ein Kindheitstrauma bei ihr berührt – ihre Mutter wurde von ihrem Vater umgebracht, als sie vier Jahre alt war. Gleichzeitig bekommt sie von ihrer Chefin den Auftrag, den vielen kaum geklärten Frauenmorden in der Provinz Acre im Amazonasgebiet Brasiliens nachzugehen. Dort ist die indigene vierzehnjährige Txupira aufs Grausamste vergewaltig, misshandelt und ermordet worden. Die drei Täter, weiße Studenten der örtlichen Oberschicht, werden in einem Prozess freigesprochen. Das wollen eine Staatsanwältin, eine Journalistin und die Ich-Erzählerin nicht hinnehmen.

Neben der Erzählung, wie sich dieser Fall entwickelt, gibt es immer wieder Geschichten über andere Femizide, zum Teil nur als kleine Einsprengsel, am Anfang eines Kapitels – wie eine Zeitungsnotiz oder ein Obduktionsbericht, aber teilweise werden die Schicksale der Frauen auch weiter ausgeführt. Die junge Anwältin sammelt diese Fälle in einem Heft, sieht sie als „gestapelte Frauen.“

Und dann existiert noch eine dritte Ebene – in den Kapiteln, die mit dem griechischen Alphabet durchgezählt werden. Die junge Anwältin beginnt, sich mit der Kultur der verschiedenen indigenen Gruppen in Acre zu beschäftigen und besucht mehrfach das Dorf von Txupira. Hier nimmt sie an einem Ritual teil, bei dem es Ayahuasca, einen berauschenden Pflanzensud gibt. Unter der Einwirkung sieht sie die sogenannten „Amazonen“ – wilde Kriegerinnen, die sich äußerst grausam an den Männern rächen und sich damit aus der Opferrolle befreien.

Patrícia Melo hält den Spannungsbogen bis zum Schluss. Ihr Roman ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit den brutalen Femiziden, sondern auch eine Liebeserklärung an den Regenwald des Amazonas und an die Menschen, die ihn bewahren wollen. Sie verknüpft diese beiden Themen geschickt und verschafft uns damit beim Lesen immer dann eine kleine Atempause, wenn die Brutalität zu übermächtig wird.

Beide Autorinnen legen unerbittlich den Finger in eine gesellschaftliche Wunde, die diese Schicksale von Frauen ermöglicht. Sie zeigen aber auch, wie gute Literatur uns dazu bringen kann, nicht weiter die Augen vor diesen Themen zu verschließen.

Cover: Unionsverlag

Patrícia Melo
Gestapelte Frauen
Unionsverlag, Zürich 2021
bei amazon
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Festival „Frequenzen. Feminismen Global“

Von feministischem Widerstand in der Kunst bis zu Self-Care als politischer Aktion, von Gewalt gegen Frauen bis zu Feminismus in der Politik und einer Neudefinition von Männlichkeit reicht das Themenspektrum des interdisziplinären Festivals „Frequenzen. Feminismen global“. Das Goethe-Institut bringt vom 19. bis zum 21. Mai 2022 über 60 internationale Kulturschaffende und feministische Stimmen in Berlin zusammen, etwa von den Philippinen, aus Afghanistan, Mexiko oder Burkina Faso.

Die Veranstaltung findet in Berlin statt. Die Teilnahme ist kostenlos, um Anmeldung wird gebeten.
Alle Informationen finden Sie hier.

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