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Gelsominas Totentanz

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Am Gärtnerplatz in München choreographiert Marco Goecke La Strada nach dem Film von Fellini und der Musik von Nino Rota als abstrahiertes Handlungsballett. Dem cineastischen Überschwang der Vorlage stellt er eine eigene Version entgegen: düster und stringent durchstilisiert. Von Stephan Reimertz.

Mit dem Neorealismus ist es wie mit dem Erzengel Gabriel: alle reden von ihm, aber keiner hat ihn je in Reinform gesehen. Werke dieser Epoche erweisen sich stets als Mischformen. So stehen die Racconti Romani von Alberto Moravia voll und ganz in der Tradition der italienischen Renaissance-Novellistik, und ein Film wie Rom, offene Stadt von Roberto Rossellini verdankt Verismus und Melodrama mehr als einem wie immer definierten Konzept von Neorealismus. Dasselbe gilt für den Filmklassiker La Strada, der 1954 als dritte gemeinsame Arbeit von Federico Fellini und dem Komponisten Nino Rota ins Kino kam.

Bis ans Ende gedacht und gestaltet

Rota schrieb die Musik, nachdem der Film weitgehend fertig war. 1966 hatte an der Scala die Orchestersuite Premiere. Marco Goecke baute jetzt sein Ballett auf Rotas Musik auf. Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz spielt eine etwas abgespeckte Version der symphonischen Vorlage. Der Choreograph Goecke ist kein Nachtänzer, seine Version von La Strada kein Nachhall auf Fellinis Film. Vielmehr hat er das Thema der Geschichte, die radikale menschliche Einsamkeit, konsequent durchdacht. So ist die stilistische Stringenz der neuen Tanztheaterproduktion ein Ergebnis der philosophischen.

Ballettensemble des Staatstheaters am Gärtnerplatz © Marie-Laure Briane
Selbstverschuldete Einsamkeit

Goecke arbeitet mit beharrlicher Reduktion der Bild- und Bewegungssprache, wie ein Schriftsteller, der sich bei einem Roman für ein bestimmtes Idiom entscheidet und dieses bis zum Ende durchhält. Er kreiert damit eine Tanztheatersprache des Flimmerns und Flackerns, schlägt in seiner harten und kunstvollen Version der Geschichte den Bogen von den spitzigen Formen in der Malerei des deutschen Spätmittelalters und ihrer Wiederkehr im Expressionismus bis zum Film der Zwanziger Jahre. Historisch-stilistisch spielt der Choreograph auf den Stummfilm am Übergang zum Tonfilm an, so als hieße Zampanò nicht: große Tatze, sondern sei die italienische Übersetzung von Zappelphilipp. Der Choreograph gibt den Tänzer-Darstellern Worte oder Laute ein, die sie gelegentlich von sich geben, was dem Stück einen irrealen Dreh verleiht. So ist Goeckes La Strada filmisch allein in einem stark vermittelten Sinne. Die Münchner Fassung hat Filmlänge, es wird wie bei Fellini die Geschichte des selbstherrlichen Mannes erzählt, der die liebende Frau wegjagt und zu spät seiner Einsamkeit innewird. Diese allerdings ist tödlich. Das Erschrecken, welches man am Ende des Films von Fellini spürte, fährt einem auch in der neuen Tanztheaterproduktion in die Glieder. Es ist der Schock der mit der Einsicht kommt, seine Einsamkeit selbst verschuldet zu haben.

Verónica Segovia und Özkan Ayik als Paar, das nicht zueinander findet

La Strada von Marco Goecke ist ein künstlerisches Werk eigenen Rechts, es bedarf des Films von Fellini nicht und kann, mit diesem konfrontiert, dem italienischen Klassiker gleichberechtigt entgegentreten. Goecke entwickelt eine originelle schwarze und scharfkantige Gebärdensprache. Verónica Segovia tanzt und spielt die Gelsomina mit bitterem Charme und setzt der unausweichlichen Suggestion von Gulietta Masina eine eigene Gestalt entgegen. Als Schneewittchen der Straße, so rot wie Blut, so weiß wie Schnee und so schwarz wie Ebenholz, verkörpert sie das vernachlässigte und verachtete Mädchen, dessen Wert ihr Mann erst erkennt, als es tot ist. Auch Özkan Ayik braucht die Erinnerung an Anthony Quinn nicht zu fürchten, in seiner Darstellung freilich überwiegt das Jugendlich-Attraktive über das Furchteinflößende des Filmschauspielers. Selbst Nebenfiguren wie der Zirkusdirektor werden zu Todesboten; David Valencia tanzt die Rolle mit Zylinder und einer geradezu tödlichen, unheilschwangeren Eleganz. Gerade weil dieses Tanztheater so gelungen ist, ist es so erschreckend.

David Valencia © Marie-Laure Briane
Philosophische Wucht

In seiner historischen Verankerung verweist das neue Stück durchaus auch auf Klassiker wie John Crankos Der Widerspenstigen Zähmung, kürzlich in München wieder zu sehen. Wie Cranko verbindet Goecke Kunst- und Filmgeschichte mit modernem Handlungsballett. Er war von 2005 bis 2018 Hauschoreograph des Stuttgarter Balletts, doch von einer Stuttgarter Schule wird man bei ihm nicht sprechen, zu eigenständig ist sein Ansatz. Die Farbe Schwarz beherrscht alles, das Stück ist von der tödlichen Einsamkeit der letzten Szene rückwärtsgedacht. Nach Jean und Antonín ist La Strada nun das dritte Tanztheater, das man als Grablege betrachten kann. Die todesbleiche Atmosphäre war einer der Gründe, warum es diesmal an Kindern fehlte, die den Zuschauerraum sonst beleben. Auch fragt sich der Betrachter, ob das Ballettensemble nach vielen Tanztheaterstücken mit abstrahierter Handlung nicht den Sprung ins Handlungsfreie wagen sollte.

Özkan Ayik, Verónica Segovia © Marie-Laure Briane
Einsames Leben, einsames Sterben

Nichts wird hier routiniert abgetanzt, vielmehr haben sich alle Beteiligten mit Leib und Seele hineingekniet. Das Premierenpublikum begriff, wie sich jeder einzelne Tänzer engagierte und bereitete dem Ensemble, dem Orchester und dem Choreographen jubelnden Applaus. Die Freude kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie schonungslos uns Marco Goecke hier die Einsamkeit des modernen Menschen vor Augen stellt, der sich eben noch für großartig hielt und zu spät einsieht, wie radikal er sich geirrt hat. Die letzte Szene, in der Zampanò sich seiner Einsamkeit gewahr wird, ist das, worauf alles hinausläuft; rückwirkend definiert sie die ganze Geschichte, jetzt im Tanztheater noch stärker als einst im Film. Da steht er nun in seiner grobgestrickten Grandiosität und hat nur noch die Leere des Weltalls um sich. Das Bild ist stark genug, Özkan Ayik hätte nicht auch noch Laute der Verzweiflung ausstoßen müssen. Hättest du geschwiegen, wäre das ganze ein Tanztheater geblieben. Anders als bei Kant korrespondiert der gestirnte Himmel nicht mehr dem moralischen Gefühl im Innern des Menschen, sondern nur noch seiner rettungslosen Einsamkeit.

Marco Goecke
La Strada
Weitere Aufführungen am 17. und 23. Juli 2018

Staatstheater am Gärtnerplatz
Gärtnerplatz 3 I
80469 München

 

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Ein Gedanke zu „Gelsominas Totentanz“

  1. Wieder gelingt es Herrn Reimertz, uns einen so dichten, fundiert begründeten und brillant geschriebenen und nachvollziehbaren Erlebnisbericht zu geben, daß man gleich in die nächste Vorstellung eilen möchte. Eine kluge Rezension, die einem die Augen öffnen kann und Blickrichtungen anbietet, die dargebotene Kunst einfach besser (oder überhaupt erst) zu verstehen. Eine Theater-Kritik ist vielleicht nur eine Brille, durch die man auf die ferne Bühne schaut – aber was für ein scharfes Glas!

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