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Ein Blick in die Seele Russlands: „Schnee im Mai“ von Kseniya Melnik

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Literatur

Von Barbara Hoppe.

Ausgerechnet die Hafenstadt Magadan im äußersten Nordosten Russlands zum Mittelpunkt von neun Erzählungen zu machen, ist zumindest ungewöhnlich. Schließlich bieten Sankt Petersburg oder Moskau die weitaus prachtvollere Kulisse. Die 1983 in Magadan geborene, 1998 nach Alaska ausgewanderte und heute in Südkalifornien lebende Kseniya Melnik widmet dennoch ihr erstes Buch ihrer Heimatstadt. Eine Stadt, die für die grausame Vergangenheit der Sowjetunion steht, war hier doch noch bis 1956 das Verwaltungszentrum der sowjetischen Straflager.

Die junge Autorin hingegen nähert sich der Stadt und ihrer besonderer Atmosphäre über ihre Protagonisten und aus verschiedenen Zeiten. Da ist Tanja, die 1975 auf einem Flug zurück aus Moskau auf die Probe gestellt wird, ihren Pflichten als Mutter und Ehefrau zu folgen oder ein Abenteuer zu wagen. Oder Tolik, der 2012 sein Glück in einem Wohnkomplex zwischen Palmen und Swimmingpools im sonnigen Kalifornien fand, aber durch einen Anruf seines einst besten Freundes Toljan an die gemeinsamen Tage in Magadan erinnert wird. Tage, an denen sie hoch in den Bergen Ski fuhren und auf die Stadt hinabblickten, diesem weißen „Zündholzschachtel-Labyrinth, eingebettet in schneeleopardenweiße Berge.“ 1958 sucht Olja die große Liebe und strandet als Ehefrau im von Vulkanen umgebenen Petropawlowsk-Kamtschatski in Kamtschatka. Besonders berührend und eine der längsten Schilderungen des Erzählbandes, ist das Schicksal des Opernsängers Makin, der einst als Strafgefangener in die Stadt kam und blieb. Die freche Asik, die in „Rumba“ 1996 in bester Lolita-Manier ihrem Tanzlehrer den Kopf verdreht, zeigt die jugendliche Seite der Stadt.

Cover: Nagel & Kimche

Kseniya Melniks Erzählungen sind zarte Geschichten mit viel Erzählfreude und voller Liebe zu ihren Hauptfiguren. Durch sie gewährt die Autorin einen tiefen Blick in die Seele der Menschen ihrer Heimat. Ein Land, ob es nun Sowjetunion oder Russland heißt, das so groß ist wie das Leid, das seine Bewohner erfahren mussten. Indem die Autorin die Geschichten in verschiedenen Jahrzehnten ansiedelt, dabei allerdings nicht chronologisch vorgeht, gelingt ihr ein kleines Meisterstück: Der Lesende taucht ein in immerwährende Träume und Sehnsüchte sowie einen Alltag ganz unterschiedlicher Menschen – Kinder ihrer Zeit – , deren Befindlichkeiten wir noch heute nicht immer ganz verstehen. Wer sich jedoch mit ihren Protagonisten anfreundet, kommt ihnen auf poetische und fast zärtliche Weise näher.

Kseniya Melnik
Schnee im Mai
Aus dem Englischen übersetzt von Hella Reese
Nagel & Kimche, Zürich 2022
bei amazon
bei Thalia

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