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Arezu Weitholz fährt tragikomisch bis „Beinahe Alaska“

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LiteraturRezension von Barbara Hoppe.

Vorsichtshalber steht am Anfang dieses kleinen, aber feinen Romans schon einmal, was alles nicht passiert: „Es wird keinen Mord geben, keine Leichen, kein Monster, keinen Unfall, keine abgefrorenen Nasen oder Zehen.“ Und noch so vieles andere wird nicht passieren. Keiner wird ertrinken oder verunfallen, es wird keine dramatischen Begegnungen mit wilden Tieren geben oder Winterstürme. Es wird nur Menschen auf einer Expeditionskreuzfahrt geben. Aber „die Polarsonne wird leuchten, und man wird die trockene, sauerstoffarme Luft der Arktis atmen, in der alles überdeutlich zu sehen ist“.

So beginnt Arezu Weitholz die Erzählung ihrer namenlosen Fotografin, die von einem Verlag auf ein Kreuzfahrtschiff geschickt wird, um von der Südspitze Grönlands nach Alaska zu fahren und Fotos zu machen. Wenn man Mitte vierzig und ohne Familie ist, kommt ein solcher Auftrag nicht ungelegen. Auch wenn auf dieser Fahrt nichts Dramatisches passiert sind doch die vielen kleinen Beobachtungen und zwischenmenschlichen Begegnungen so schön wie der Wechsel des Lichts bei der Abfahrt in Grönland, wo die Welt ein pastellfarbener Acid-Traum ist. „Eben waren die Felsen noch braun, jetzt schimmerten sie pink“. Und „selbst das Meer war kein Meer , sondern eine Masse aus zähflüssigem Öl, in der sich in hellsten Neonfarben alles spiegelte: der hellblaue Himmel, die fliederfarben schimmernden Berge, die vom Sonnenlicht gelbgoldenen Wolken.“

Arezu Weitholz
Cover: mareverlag

Los geht die Reise mit einer Schar von Expeditionstouristen, die das Abenteuer suchen und doch zu gern am Essen herumnörgeln, das Käptn’s Dinner vermissen und maulen, wenn Wale und Eisbären einen Bogen um das Schiff machen. Mit viel Ironie und Witz beschreibt die Autorin den Mikrokosmos einer Gemeinschaft, die für knapp zwei Wochen durch das ewige Eis reist. Eine Ewigkeit, die langsam anfängt, dahinzuschmelzen, auch wenn hin und wieder ein Eisberg am Schiff vorbeischwimmt, „ein weißer Baiser, mit Blue Curaçao übergossen“. Wären da nicht der nette Witwer Herr Mücke oder der Journalist Lewis, würde die Fotografin an chinesischen Influencern mit schlechten Tischmanieren, langweiligen Schriftstellern, die Schreibkurse geben, und dreisten österreichischen Kampftouristinnen verzweifeln. Doch so gelingt es der Reisenden von Zeit zu Zeit, angenehme Gespräche zu führen und Momente für sich zu finden, um nachzudenken: Über schmelzende Gletscher, über Orte wie Hopedale, wo es keine Hoffnung gibt oder Städtchen wie Makkovik, in denen bunte Häuser mit weißen Fensterrahmen leuchten. Über die frühen Entdecker, die im Packeis ihr Leben verloren oder auch über ihr Singleleben in einer eigenartigen Gesellschaft.

Arezu Weitholz wandelt federleicht und feinsinnig nuanciert durch ihre Beobachtungen von Natur und Mensch am nördlichsten Zipfel der Welt. Unaufgeregt greift sie in das ganz normale tragisch-komische Leben von uns Menschen und lässt immer wieder schmunzeln. 

Arezu Weitholz
Beinahe Alaska
mareverlag, Hamburg 2020
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Der Artikel erschien ebenfalls am 2. Oktober 2020 in „Das Wochenende“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Neuen Presse und der Frankfurter Rundschau.

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