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Eine Reise in die philosophische Welt: „Schopenhauer. Leben – Werk – Wirkung“

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Eine Rezension von Stephan Reimertz

Eine Reise in die philosophische Welt: „Schopenhauer. Leben – Werk – Wirkung“Waren Sie schon einmal auf dem Frankfurter Hauptfriedhof? In einer stillen, etwas unheimlichen Ecke finden Sie das Grab von Arthur Schopenhauer unter einer schlichten, eher an das 18. Jahrhundert als an seine eigene Zeit erinnernde Grabplatte. Der Herausgeber Arthur Hübscher war so geschmackvoll, sich mit ins Grab zu legen; Stalking über den Tod hinaus … Auch darum wirkt diese Ecke des Friedhofs so unheimlich.

Wie kein anderer hat Arthur Schopenhauer erhellt, dass der Kern der Welt dunkel ist. Unsere Instrumente dienen der Selbsterhaltung. Unser Wille ist nicht frei. Die Folgen seiner Philosophie für die Aufklärungskritik waren ebenso weitreichend wie für die Psychoanalyse und den Konstruktivismus, und es ist noch nicht abzusehen, welche Bestätigungen sie in den nächsten Generationen der Hirnphysiologie finden wird. Seine Bedeutung in der Philosophiegeschichte ist der Brückenschlag zwischen antiker Philosophie und Moderne sowie zwischen westlicher und östlicher Philosophie. Er war der erste Philosoph, der auf die seit dem später 18. Jahrhundert umfassend in lateinischer Übersetzung vorliegenden buddhistischen Schriften und andere Quellen indischer Philosophie eine Antwort aus der Tradition Platos und Kants zu geben versuchte. Zugleich frappiert die Sprachgewalt, die sich zur klassischen Sentenz steigern konnte, die aber auch eine Reihe satirischer Aperçus hervorschleudert.

Vorausschauende Kritik an der Uni von heute

Schopenhauers Ausfälle gegen Zeitgenossen wie Fichte und Hegel, ja gegen die gesamte Universitätsphilosophie, scheinen auf den ersten Blick das Niveau des Gesamtwerks zu unterbieten. Wirft man jedoch einen Blick auf den totalitären Etatismus, der sich auf Hegel berief, und auf die Zerstörung der Universität in unseren Tagen, offenbart sich, wie gültig und dringlich Schopenhauers Hegel- wie Universitätskritik gerade heute ist. Das Handbuch streift die Beziehung Schopenhauers zur politischen Philosophie; in der Tat fanden einige seiner Bemerkungen gegen Hegels Geschichtsphilosophie in Karl Raimund Poppers Beschreibung des hegelschen »Historizismus« eine Entsprechung von ganz anderer Warte.

Anfangsschwierigkeiten beim Schopenhauer-Lesen klingen in der Regel etwa so: „Den Schopenhauer finde ich schwierig zu lesen. Holt umständlich aus, macht lange Sätze und hält sich für den größten Philosophen aller Zeiten.“ Man liest sich aber schnell ein und wird, nachdem man sich an den Stil gewöhnt hat, mit ungeahntem, überraschendem Gedankenreichtum belohnt und ist bald geneigt zu sagen: „Ach so ist die Welt eigentlich!“

Die Gestalt dieses Werkes ist paradox. Auf Tausenden von Seiten weist Schopenhauer unter Aufbietung aller verfügbaren Religionen, Philosophien und Wissenschaften nach, dass die Welt nichtig sei; er tut dies jedoch in vollendeter Gedanken- und Sprachgewalt, der man die Freude am Schaffen ebenso anmerkt, wie man von ihr getragen wird und als Leser eine Freude an der Lektüre empfindet, wie sie selten ein Autor zu schenken hat. Die Welt könnte, mit Heinrich Heine, zu diesem Philosophen sagen: »Du willst mich nicht mehr lieben, / aber dein Brief ist lang.« Dem Brief in Heines Gedicht stehen bei Arthur Schopenhauer mehrere tausend Seiten gegenüber, auf denen der gekränkte Liebhaber der Welt seine Verachtung dartut und begründet.

Großbürgerlicher Durchblick in der Philosophie

Kaum etwas ist behaglicher, als an einem verregneten Herbstnachmittag, wenn es draußen stürmt und regnet, mit einem Glas Bordeaux oder Whisky am Kamin zu sitzen, und bei Schopenhauer zu lesen, wie nichtig die Welt sei, wie unausweichlich der Fall des Menschen. Es wird eine sprachliche und gedankliche Artistik aufgeboten, die viel Vergnügen bereitet. Dabei liebt es der Autor, Gewährsleute zu zitieren, ob es sich um philosophische Klassiker, englische Sensualisten, indische Weise, spanische Autoren des Siglo de Oro, oder zeitgenössische Dichter wie Byron handelt; europäische Autoren natürlich im Original. Allerdings gibt Schopenhauer zu griechischen Zitaten stets die lateinische, zu englischen die deutsche Übersetzung.

Schopenhauer/Daguerreotypie von 1859
Schopenhauer/Daguerreotypie von 1859

Daniel Schubbe (Fernuniversität Hagen) und Matthias Koßler (Präsident der Schopenhauer-Gesellschaft) versammeln im Schopenhauer-Handbuch fast fünfzig international renommierte Gelehrte, die sich jeweils auf knappem Raum zu mannigfaltigen Aspekten des Gesamtwerks von Arthur Schopenhauer äußern. Robert Zimmer fasst die beeindruckende Bildungsbiographie des Philosophen zusammen und hebt hervor, dass seine großbürgerliche, weltläufige Herkunft aus einer hanseatischen Patrizierfamilie in Danzig für einen deutschen Philosophen ebenso ungewöhnlich ist wie die Tatsache, dass er zunächst eine kaufmännische Ausbildung und eine Weltreise absolvierte, bevor er sich den Wissenschaften zuwandte. Das väterliche Erbe ermöglichte es ihm, geistig und materiell unabhängig zu leben. Schopenhauer hat, kurz gesagt, die Welt gesehen, während es sich bei Fichte, Hegel usw. um Kleinbürger handelt, die noch dazu aus der theologischen Tradition in die Philosophie einstiegen.

Schon dieser biographische Auftakt des Handbuchs gibt uns Anlass zu fragen: Ist nicht Philosophie in der Regel eine soziale Aufsteigerstrategie? Sind nicht Philosophen normalerweise Plebejer, und ist nicht Sokrates dafür das beste Beispiel? Ist nicht ihr prätentiöses Gehabe, man denke nur an Heidegger oder Adorno, typisch kleinbürgerlich? Und sind nicht gerade darum großbürgerliche Ausreißer wie Schopenhauer, Kierkegaard oder Wittgenstein so auffällig?

Denn das will das Schopenhauer-Handbuch: Uns die Leiter reichen, mit der wir zu Schopenhauers Philosophie hinaufsteigen und die wir dann wegwerfen können. Nach der unterhaltsamen biographisch-bildungsgeschichtlichen Einführung, die zeigt, wie sehr Schopenhauer zwischen seinem geliebten Vater und der nervigen, dominanten Mutter ein idiot de la famille gewesen ist, fasst Matteo Vincenzo d’Alfonso Studienjahre und die Ergebnisse der Dissertation Schopenhauers zusammen. Dabei wird deutlich, wie eng der Philosoph einerseits an Immanuel Kant anknüpft, andererseits die Fundamente seiner Erkenntnistheorie bereits in einem verblüffend jungen Alter legt. Tatsächlich hat auch Angelika Hübscher (die Frau von Schopenhauers Grab-Mitbewohner) an anderer Stelle betont, dass diese Philosophie sehr früh ausgereift war und später wohl ausformuliert, nicht aber modifiziert oder verändert wurde.

Survival Kit für die Ersteigung eines Achttausenders

Im Hauptteil des Handbuchs sind vielfältige Aspekte des Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung und des höchst unterhaltsamen Spätwerks Paralipomena und Parerga ebenso fasslich und hilfreich zusammengefasst wie Hinweise zum handschriftlichen Nachlass oder der vermeintlichen Seitenschrift Die beiden Grundprobleme der Ethik. Dass es sich bei den zahlreichen Autoren dieses stets auf neuestem Stand befindlichen Handbuchs um Wissenschaftler von z. T. weltweitem Ansehen handelt, zeigt sich auch im Ausklang des Buches, der Einfluss, Kontext und Wirkung Schopenhauers auffächert. Hier wird auch erläutert, wie der Philosoph in anderen Ländern, Wissenschaften, Künsten und nicht zuletzt in anderen philosophischen Schule gelesen wurde und wird. Die Gefahr besteht allerdings darin, jedes Raunzen in einem österreichischen Caféhaus, wie etwa das des Literaten Thomas Bernhard, gleich als »Schopenhauer-Rezeption« zu rubrizieren. Spannend sind hingegen die Hinweise auf die Neurophilosophie. Diese sich am schnellsten entwickelnde philosophische Disziplin wird sicher in Zukunft in der Lage sein, Schopenhauers Werk neu zu interpretieren. Etwas unterbelichtet bleibt die russische Philosophie in diesem Zusammenhang; die Autoren vermuten die Schopenhauer-Rezeption in Russland hauptsächlich in der Romanliteratur. Anregend hingegen ist Wolfgang Weimers Abhandlung über die Schopenhauer-Lektüre der Analytischen Philosophie; diese zeigt sich heute am besten in der Lage, die Philosophie Schopenhauers zu beschreiben und weist einige interessante Parallelen mit ihr auf.

Der J. B. Metzler Verlag ist aufgrund seiner jahrhundertealten Tradition ehrwürdig zu nennen. Ein Beispiel dafür, was möglich ist, wenn eine Reihe hervorragender Gelehrter sich innerhalb eines haltbaren Konzepts entfaltet, ist dieses Handbuch, über 400 Seiten stark und zweispaltig gedruckt. In gleicher Ausstattung erschienen bei Metzler Handbücher über Heidegger, Marx, Benjamin, Mahler, Foucault oder Bourdieu; so ist die Reihe offen und beliebig fortzusetzen. Das Gottfried-Keller-Handbuch wurde ein Bestseller. Wären nicht die hohen Preise dieser Hausbücher, sie stellten eine Grundausstattung für Studenten dar. Mit dem Schopenhauer-Handbuch bietet der Verlag uns einen Reiseführer in eine der spannendsten und aufregendsten philosophischen Welten.

Schopenhauer-Handbuch
Leben – Werk – Wirkung
Hrsg. von Daniel Schubbe und Matthias Koßler
J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2014
bei amazon

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Ein Gedanke zu „Eine Reise in die philosophische Welt: „Schopenhauer. Leben – Werk – Wirkung““

  1. Ob der gelegentlich etwas arg flapsige Ton einem großen stilistisch-denkerischen Meister und Pessimisten vom Range Schopenhauers wirklich immer angemessen ist, wage ich zu bezweifeln; aber es ist gut und verdienstvoll, auf dieses Handbuch hinzuweisen und auf eine philosophische Großfigur aus dem Arsenal der Sprachmeister, der Spötter, der Einzelgänger und polyglotten Vielleser. Die profunde Kenntnis, die dieser sperrige, spröde und zugleich leidenschaftliche Autor einem zuführt (und irgendwie ein bißchen auch abverlangt), ist für mich eine seit Jahrzehnte stets aufs neu erfrischende Aufforderung, nicht einverstanden zu sein, sei es mit der digital-heilen Welt, sei es mit der akademischen Ödnis der Gymnastik für Denksportler, zu der hierzulande die Philosophie zu verkommen scheint. Gäbe es nicht die Möglichkeit, immer wieder zurückzugehen zu solchen Ausnahmen wie den zornigen Weiberfeind aus Frankfurts Schöner Aussicht, wäre die Lesewelt deutlich ärmer.
    Aber eine kleine Korrektur muß sein: Adorno, der wohlbehütete Sproß einer wohlbetuchten Weinhändlerfamilie, war keinefalls ein Kleinbürger! Viel Kritik, die Teddy sich anhören mußte, stammt gerade daher, daß er die praktische Welt nicht kannte und – Jürgen Habermas hat auf charmante Weise daran erinnert, wie sehr man sich im Gegenüber des sensiblen Musikers, Soziologen, Philosophen als der Erwachsene gegenüber einem Kinde fühlen konnte.

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