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Zwei Bücher ein Thema „Was wäre wenn…“

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LiteraturVon Birgit Koß.

Die Zeit des ersten Lockdowns vor einem Jahr nutzen viele zur Einkehr und Besinnung. Es wurde das Spazierengehen wiederentdeckt, Muße und die Auseinandersetzung mit sich selber. Dazu gehört anscheinend für viele auch immer wieder die Frage, was wäre, wenn… ich mich anders entschieden hätte – wie wäre mein Leben dann verlaufen?  Zwei etablierte Autoren haben sich diese Frage  in sehr unterschiedlicher Form gestellt.

Cover: Peter Hammer Verlag

Henning Wagenbreth ist seit vielen Jahren Professor an der Universität der Künste in Berlin. Er illustriert Bücher, Plakate, Zeitungen und Magazine und interessiert sich für Animationsfilme, Musik und Theater. Außerdem gehört seine Liebe dem Bilderbuch. 2012 erschien im Peter Hammer Verlag „Der Pirat und der Apotheker“ – von ihm illustriert. Das Buch wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

Im nun vorliegenden Buch „Rückwärtsland“ ist er sowohl für die Illustrationen als auch für die Verse verantwortlich. Henning Wagenbreth beginnt mit seinen Rückwärtsvokabular und vergleicht dies mit einer Reise in ein fremdes Land. Zur Vereinfachung gibt es für jedes Wort das entsprechende Bild. Da finden wir beispielsweise OUTA, LESE, ESAN, ENRIB oder TNAFELE.

Danach erzählt der Autor elf Geschichten mit einem eher tragischen Ausgang, spult die Zeit zum Anfang zurück und gibt unserer Phantasie damit die Möglichkeit, nach einem anderen Ausgang zu suchen – oder um es mit seinen Worten zu sagen:

„All das tut dir heute leid.
Ließe sich doch nur die Zeit
einfach noch mal rückwärts drehen,
so als wäre nichts geschehen.

Und du könntest all die Sachen
noch einmal und besser machen!
Plötzlich wäre uns’re Welt
Ziemlich auf den Kopf gestellt.

Wie dann alles funktioniert,
wird hier farbig illustriert.“

Und so nimmt uns Hennig Wagenbreth an die Hand und zeigt uns das Rückwärtsland. Er verrät, dass ihm seine Verse, die sehr an Wilhelm Busch erinnern, nachts im Bett eingefallen sind. Die ausdrucksstarken Bilder sind in kräftigen Farben gehalten. Dazu kommen die Reime über das vergessene und somit verkohlte Abendbrot im Backofen, den vergessenen Schirm aber auch Fragen wie „Oder hast du das studiert, was dich gar nicht interessiert?“ oder „Hast du mal sehr viel geraucht? Die Gesundheit so verbraucht?“ Es geht sogar um die Moral, mit Fragen nach Lügen und Betrügen oder einer zerbrochenen Freundschaft. So bietet dieses wunderschön gestaltete Bilderbuch Anregungen und Vergnügen für jede Altersgruppe – ein Genuss für die ganze Familie.

Henning Wagenbreth
Rückwärtsland
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2021
bei amazon
bei thalia

Cover: Droemer Knaur

Das zweite Buch ist von dem erfolgreichen britischen Autor Matt Haig: „Die Mitternachtsbibliothek“. 1999 wurde bei ihm eine Depression diagnostiziert, die er öffentlich machte und in diversen sowohl Sachbüchern als auch Romanen immer wieder thematisiert. Auch die Protagonistin der Mitternachtsbibliothek Nora Seed kommt mit ihrem Leben nicht klar. Ihre vielversprechende Karriere als Schwimmerin – der Traum ihres Vaters – hat sie als Teenager abgebrochen. Der Kontakt zu ihrer besten Freundin, die inzwischen in Australien lebt, und zu ihrem Bruder in London ist fast vollständig eingeschlafen. Trotz ihres abgeschlossenen Philosophiestudiums arbeitet Nora in einem heruntergekommenen Plattenladen in ihrer Heimatstadt, der nun pleitegeht. Als dann noch ihre Katze überfahren wird, beschließt die junge depressive Frau ihrem Leben ein Ende zu setzen. In kurzen plastischen Kapiteln schildert der Autor die letzten Stunden in Noras Leben.

Und dann steht die Uhr auf 00:00:00. Nora erwacht in einem seltsamen Raum und trifft dort auf Mrs. Elm, ihre alte Schulbibliothekarin – eine der wenigen Personen, die sie früher verstanden hat. Sie hatte Nora getröstet, als sie vom frühen, plötzlichen Tod ihres Vaters erfuhr. Nun macht Mrs. Elm Nora mit der Mitternachtsbibliothek vertraut. Hier sind alle Lebensgeschichten von Nora vereint, je nachdem welche Entscheidungen sie ihn ihrem Leben getroffen hätte. „Du hast so viele Leben, wie du Möglichkeiten hast. Es gibt Leben, in denen du andere Entscheidungen triffst. Und diese Entscheidungen führen zu anderen Resultaten. Hättest du nur eine Entscheidung anders getroffen, dann hättest du eine andere Lebensgeschichte gehabt. Und all diese Möglichkeiten existieren in der Mitternachtsbibliothek.“ Außerdem gibt es noch das Buch des Bereuens, das Mrs. Elm als Quelle aller Probleme Noras deklariert. Doch zunächst hat Nora die freie Wahl zwischen den vielen Lebenswegen. Hat sie ein Buch ausgewählt, taucht sie vollständig in diese Lebensgeschichte ein. Zunächst erkennt sie noch, dass sie hier fremd ist, doch schnell kann sie sich an die Situation anpassen, solange bis sie wieder beginnt, etwas zu bereuen und sofort in die Mitternachtsbibliothek zurückkatapultiert wird. So kann Nora die unterschiedlichsten Erfahrungen machen – als Ehefrau ihrer Jugendliebe, als Olympiaschwimmerin, als gefeierte millionenschwere Starsängerin, als Forscherin in der Arktis. Doch immer haben diese traumhaften Welten auch ihre Haken und jedes Bedauern führt unweigerlich zu Mrs. Elm zurück.  

Die Kapitel sind knapp und anschaulich und entführen Nora in diverse, zum Teil spektakuläre Lebenssituationen. Doch der Autor will etwas anderes, als nur dieses bunte Kaleidoskop darzustellen. Beharrlich bringt er Nora –  und damit auch seine Leserschaft – auf den Weg zu erkennen, dass nicht die Wahl das wirklich Entscheidende ist, sondern die positive Entscheidung das Leben, so wie es ist anzunehmen – also einfach zu leben. Ein Mut machender Roman, der uns auffordert, uns mit unserer jeweiligen Lebenssituation anzufreunden und dabei immer wieder nach vorn zu schauen.

Matt Haig
Die Mitternachtsbibliothek
übersetzt von Sabine Hübner
Droemer Knaur, München 2021
bei amazon
bei thalia

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