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Zum ersten, zum zweiten, und gedruckt. Ijoma Mangolds Geschichte – ausgewalzt wie Plätzchenmürbeteig

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Zum ersten, zum zweiten, und gedruckt. Ijoma Mangolds Geschichte - ausgewalzt wie PlätzchenmürbeteigVon Carsten Schmidt

Ein Junge in Heidelberg wächst behütet Anfang der 1970er auf. Behütet von der Mutter, die Kinder- und Jugendtherapeutin ist, der Vater ist nach Aussage der Mutter in seine Heimat Nigeria zurückgekehrt, als der Junge zwei Jahre alt war – und beide Seiten hätten das für gut befunden.

So wächst der kleine Ijoma Mangold auf. Die ersten Kapitel seiner quasi-Autobiographie beschreiben die Kindheit mit der Mutter, die gern alles ausdiskutiert und ihrem Sohn so die Sprache und auch das Lesen sehr nahe bringt. Der relativ engen Dynamik zwischen Mutter und Sohn sind viele Seiten gewidmet. Mangold beschreibt, wie anders das Leben bei den Großeltern war, wo alles in Ordnung gehalten wurde und es undenkbar war, dass der Teppich zerschlissen sei oder ein Bild schief hing. Angedeutet wird die Abwesenheit und das sich nicht Verhalten können zum abwesenden Vater. Über lange Jahre gibt es keinen Kontakt. Den jungen Ijoma stört das hölzerne Krokodil in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung, was so gezielt auf seine Herkunft hinweist. Lieber möchte er sparen auf „das deutsche Krokodil“, eine Modell-Eisenbahn, die der Kleine nach einigem Sehnen und Hoffen geschenkt bekommt.

Er selbst möchte weder die Vaterabwesenheit noch seine Hautfarbe diskutieren, und betont auch, dass er selbst höchst selten überhaupt irgendwelche Kommentare dazu wahrgenommen hat.

Spätestens, als Ijoma aufs Gymnasium in Heidelberg geht und er neben der Schule auf seinen im Buch anonym belassenen Über-Mentor „Tenno“ trifft, einen höchst etablierten, reifen Medienjournalisten, der ihm Aufsätze für die Schule schreibt und ihm Wein, die klassische Musik und Literatur noch näher bringt als sein Mutterhaus es bislang tat – spätestens da wird deutlich, in welcher erzählerischen Schieflage Mangold sein Buch durch-erzählt.

Dass ein sensibles Kind ohne Vater sich irgendwann Ersatzväter sucht, ist verständlich und wenig überraschend. Dass die dann auch großen Einfluss haben können, ist ebenfalls klar – auch wenn im Fall vom homosexuellen „Tenno“ der jugendliche Ijoma keine körperlichen Grenzübertretungen zulässt. Dass jedenfalls weiterhin ein Junge, der als Kind viel über seine Mutter nachdachte und wie er ihre Liebe und Aufmerksamkeit aufrecht erhalten kann, später auch viel darüber reflektiert, wie er in der Klasse ankommt, ist ebenso nachvollziehbar. 

Nur – dass ein hoch-intellektueller Autor, der sich eigentlich vom Erzählten zumindest etwas distanzieren sollte, um darüber zu berichten, sich zu keinem klaren Leserbild und keiner eindeutigen Erzählhaltung entscheiden kann, ist ungewöhnlich. Es ist das „Wie“, welches das „Was“ hier überschattet. Denn spätestens nachdem Hans Sachs und die Meistersänger von Nürnberg zum fünften Mal auftauchen, weiß man: Mangold scheint einfach kein Gespür dafür zu finden, was der Leser an Information braucht und was nun wirklich schon jedem klar geworden ist. Und da er diese Unsicherheit selbst spürt – was für Debüts natürlich normal ist – geht er nochmals auf Nummer sicher und macht das, was er von seiner Mutter gelernt hat: Er diskutiert alles, alles, alles aus; er wiederholt, erklärt, und fängt wieder von vorn an. Wenn allerdings ein Autor dreihundertprozentig verstanden werden will, wird es nervig für die Leser, wenn ihnen auch das letzte Detail noch vorgekaut und erklärt wird.

Es ist die Passion, das Herzblut, das Emotionale, das Persönliche – was dann auf der Strecke bleibt. Und so liest sich ein Großteil des Buches wie ein Abarbeiten von Themen, ein handwerklich durchdachtes Vollschreiben von Seiten, ohne dass wir den Jungen und Jugendlichen Ijoma wirklich kennenlernen.

Es scheint Mangold gar nicht aufzufallen, dass er eine gesellschaftliche Scham erzählen will, die vielleicht in seiner Erinnerungsblase, aber heute kaum auf eine breite Leserschaft wirkt. Ja, wir verstehen, dass sich der Junge für den zerschlissenen Teppich der Mutter schämt. Aber sich für eine Drei-Zimmer-Wohnung zu schämen, in einer bildungsbürgerlichen Kindheit, in der die Mutter selbstverständlich eine Dauerkarte fürs Theater hat und über Jahre Klavierunterricht nimmt – das wirkt eben nur, wenn man sich keine Ein-Raum-Wohnung vorstellen kann und überhaupt nicht hinterfragt, dass man auf ein Elitegymnasium geht und studiert. Natürlich macht man das. Einerseits sagt Mangold, dass die Mutter als Therapeutin nicht nur gesellschaftlich durchaus angesehen war, sondern auch im Grunde zu den Besserverdienenden gehörte, an einer anderen Stelle heißt es „sie hatte nie Geld gehabt“. Das sind einfach Zeichen einer unklaren Erzählhaltung.

Und so schreibt hier ein Autor eine Autobiographie, die auf faszinierende, aber auch verstörende Weise im Grunde verweigert, eine zu sein – fast als würde man einem Pferd beim Springreiten zusehen, das am Hindernis scheut.

Der Autor lässt uns nur sehr wenig an seinen Emotionen teilhaben, an seinen wirklichen Hoffnungen und Entwicklungsschritten. Durch eine Wortwahl, die an einen achtzigjährigen Deutschlehrer erinnert, wirken viele Kapitel distanziert und nüchtern. Archaische Einzelwörter und Redewendungen wie „Ingrimm“, „Rabulistik“, oder „etwas Sublimes“ sind vielleicht unter Intellektuellen nicht so selten, aber Mangold beschreibt damit nicht irgendein Theaterstück, sondern sein Leben. Und da stößt man dann schon auf Sätze, die klingen, als hätte sie Max Brod 1910 verfasst. So zeigt sich der junge Mangold überrascht, dass „soziologische Gesetzmäßigkeiten so unmittelbar der Anschauung zugänglich sein könnten“. Klingt umständlich, ist aber nur eine von etlichen Stellen, wo es etwa um ein „Genre von Austausch“ geht, was immer das sei, oder vielleicht ironisch gemeinte Einlässe wie dieser: „Man muss wissen: Ich habe die anstrengende Angewohnheit, stundenlang über Essen und Trinken reden zu können.“

Sätze wie diese sind aber keine Offenbarung. Sie sind auch wenig lustig. Sie reihen sich ein in ein zähes, rechtfertigend und leider wirklich sich im Kern ständig variiert wiederholendes Muster. Nach 260 Seiten betont Mangold, dass sein Leben nun wirklich „individuellen Konstellationen“ entsprang. Da hätte Loriot an der Stelle vielleicht gesagt: „Ach was?“ Bei welchem Menschen ist das nicht der Fall? Und nach geschlagenen 273 Seiten steht da so ein Satz: „Immer wusste ich, dass ich mich von anderen unterschied“ – und dies sind Stellen, wo man sich denkt: Was soll denn das? Warum schreibt er das? Ich lese doch nicht zweihundertsiebzig Seiten, um dann solch einen Satz zu lesen.

Der Satz ist eingebettet in ein Kapitel, in dem Mangold versucht, eins seiner zentralen Verhaltensmuster zu beschreiben, nämlich dass er beim Aufeinandertreffen mit Fremden immer schnell anfing zu reden, um deren Nachdenken über seine Herkunft so schnell wie möglich zu ersticken. Nur – dass das eventuell ein ganz normales Phänomen des Redens, des Drauflos-Plapperns ist, wie es sich in jedem Fahrstuhl und Zugabteil zeigt und nicht zwingend so viel mit Hautfarbe zu tun hat, daran denkt Mangold wohl nicht. Selbst souveräne Menschen tun das, um klitzekleine Fünkchen von Unsicherheit abzuwehren.

Aber leider muss Ijoma Mangold eben alles erklären. Und so begleiten die Leser ihn gedanklich über den großen Teich, wo er die Seelenverwandtschaft zum New Yorker Pfarrer Edward ausführlich beschreibt und erzählt, wie die beiden in Gemeinschaft Schubert hören, einen ähnlichen Blick auf die Welt haben und weitere Interessen teilen, jenseits der Hautfarbe – und dann, nachdem man all das gelesen hat, meint der Autor, Edward und er hätten eine „gemeinsame kulturelle Heimat“ – da fragt man sich als Leser schlichtweg: Ja, das habe ich doch verstanden. Erklärst Du mir jetzt, was Du auf drei Seiten erklärt hast?

Und dann geht es thematisch zur afrikanischen Familie nach Nigeria, wo Mangold die Leser davon in Kenntnis setzt, welche Rolle dort Symbole, das Zeremoniell, die Gesten, der Status etc. haben – und nachdem all das beschrieben ist, erwähnt der Autor, dass übrigens der sonntägliche Kirchgang dort durchaus ein gesellschaftliches Ereignis sei. Wer hätte das gedacht? Es sind Abschnitte wie diese, die einen als Leser ärgerlich werden lassen, weil man sich veralbert vorkommt, oder wie Mangold bieder sagen würde, „zum besten gehalten“.

Vielleicht hat sich kein Lektorat beim Rowohlt-Verlag kritisch an das Manuskript gewagt. Vielleicht hat man gedacht: Nein, das ist der Literatur-Chef der ZEIT, der muss doch schreiben können. Kann sein. Aber viele Leser hätten sich gewiss gewünscht, dass der Autor mehr zeigt als das übliche, erwartbare intellektuelle Name-Dropping über Caruso, Strauss, Thomas Mann, Wagner hin zur unvermeidlichen Italien-Reise inklusive Goethe-Huldigung. Ja, kennt man hundertfach. Aber zum Literatur- und Philosophiestudium in München nur zwei Zeilen zu schreiben, ist einfach etwas, das man nicht versteht vom Literaturchef der ZEIT. Einfach nur erwähnen, wie man sich bei Thomas Mann zwischen Naphta und Settembrini nicht entscheiden wollte, ist noch keine Autobiographie, sondern leider bildungsbürgerlich altbacken.

Zum Ende des Buches – unabhängig von den inhaltlichen Konflikten und Entwicklungen, die jeder Leser selbst entdecken mag – muss man zudem handwerklich kritisch werden. Die letzten beiden Kapitel wirken wirklich wie lustlos hingeschustert und nicht geordnet geschrieben. Zwischen drei Zeitebenen wird nicht mehr vom Autor moderiert, sondern eher hingeworfen. Es wirkt wie „Ach, das wollte ich ja auch noch einbauen.“ und so beendet man das Buch von 345 Seiten mit dem Gefühlt, dass 200 auch genügt hätten.

Mir persönlich fallen vier Kategorien für Bücher ein: 1. Gut. 2. Schlecht. 3. Ärgerlich (gefährlich schlecht). 4. Ratlos machend.

Das Debütbuch von Ijoma Mangold lässt mich ratlos zurück. Ich verstehe einfach nicht, warum er es geschrieben hat. Vielleicht hat er sich selbst gedrängt gefühlt. Vielleicht hätte er sich mehr Zeit nehmen sollen, oder einen Begleiter, der ihn auf die zweihundertachtunddreißig Redundanzen im Buch aufmerksam macht – wer weiß.

Ich würde mich freuen, wenn Ijoma Mangold vielleicht mal ein Buch schreibt, das ein paar Milligramm Phantasie übrig lässt, ästhetische Wagnisse hat, und vielleicht sogar Humor.

Ijoma Mangold
Das deutsche Krokodil – Meine Geschichte
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017
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