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Yannick Nézet-Séguin – Mozart im Blut

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Von Ingobert Waltenberger.

Die Deutsche Grammophon hat ja schon einen exzellenten Titus von Mozart im Archiv. Wir erinnern uns an die berühmte Dresdner Aufnahme unter Karl Böhm mit Schreier, Varady, Mathis und Berganza. Jetzt gibt es aus der CD-Presse den Mitschnitt aus Baden-Baden, der die Dresdner Aufnahme, wäre da nicht die Fehlbesetzung der Titelpartie, an Stimmung, Geschlossenheit und Charakterzeichnung noch übertrifft. Die überwiegend erstklassige Besetzung mit Marina Rebeka – kurzfristig für Sonya Yoncheva eingesprungen – als Vitellia, Joyce DiDonato als Sesto und der fabulösen Regula Mühlemann als Servilia glänzt mit Stimmschönheit, feinsinniger psychologischer Textdeutung und dramatischem Impetus

Der vorliegende Fall ist wohl einzigartig. Der ursprüngliche Grund des Unternehmens, nämlich eine Mozart-Plattform für den mexikanischen Publikumsliebling Rolando Villazón zu schaffen, darf wohl in Anbetracht der irreparabel eingeschränkten stimmlichen Mittel des Tenors als obsolet gelten. Dabei ist der Titus wahrscheinlich von all seinen bisher gewagten Mozart-Rollenporträts noch das adäquateste. Die Erfordernisse der Partitur werden irgendwie erfüllt, Reste des einst glühenden Timbres sind noch da, aber die Stimme klingt eng, dünn, unfrei, bisweilen gequetscht. Dass noch immer wahrhafte und eindringliche Momente gelingen, ist eben genau jener Bühnenurkraft geschuldet, wofür ihn seine Fans so treu ins Herz geschlossen haben.

Dafür ist ein junger kanadischer Dirigent zu erleben, musikalisch bis in die Knochen, mit einer hohen Begeisterungsfähigkeit und integrativen Kraft gesegnet. Er lenkt seine Musikerschar, die Sängerinnen und Sänger mit dem Geschick von Apolls Sonnenwagen und hat offenbar ein goldenes Händchen für Mozart, wie dies seit Karl Böhm und James Levine kaum mehr zu erleben war.

Keine Exzentrik, keine bis zur Weißglut getriebene Tempi und durch nächtelanges Proben strapaziertes Orchester – wie sein temperamentvoller Kollegen Teodor Currentzis aus Perm für sich als Markenzeichen reklamiert hat – sind auszumachen. ,Currentzis Tito“ aus Salzburg ist vielmehr die komplette musikalische Antithese zu dem, was jetzt aus Baden-Baden zu hören ist.

Nézet-Séguin  lässt uns in der Opera seria ,La Clemenza di Tito‘ junge Leute erleben, wie sie heute mit all ihren emotionalen Irrungen und Wirrungen, hin- und hergerissen zwischen den Erwartungen, Ansprüchen und der Rasanz des Alltags, existieren. Schon längst interessiert niemanden mehr die beinahe parodistische Utopie des „gerechten“ und idealistisch aufgeklärt verzeihenden Herrschers. Gegenüber einem Terroristen, der für den Brand des Kapitols (mit vielen Toten angenommen) verantwortlich ist, gleichwie einem Hochverräter und potentiellen Königsmörder wie Sesto Milde walten zu lassen, ist schlichtweg blöd und hat mit Gerechtigkeit gar nichts zu tun. Aber auch Mozart dürfte den schmalen Pfad erahnt haben, den er mit seiner absurden Huldigung an Leopold II beschritten hat. Folgerichtig hat er die schönsten, teils überirdischen Eingebungen der tief empfundenen conditio humana entsprungen eben nicht dem Kaiser, sondern den wunderbaren Frauenfiguren Vitellia und Sesto geschenkt.

Bei der neuen Aufnahme rücken die vielfältigen, von Augenblick zu Augenblick schwankenden Emotionen der final bedingungslosen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen in einem Umfeld von Macht und Opportunismus in den Vordergrund. Die Ratlosigkeit der Figuren in ihrem inneren Widerstreit zwischen Herz und Verstand, Liebe und Pflicht wird mit anrührender Zärtlichkeit erzählt. Darin liegt auch die Modernität der Oper, die uns in einem barock verschnörkelten Rahmen den aus lodernden Leidenschaften nackten Menschen, die in sich selbst gefangene Kreatur mit der aufregendsten Musik, der Mozart je fähig war, zeigt. Mozart hat kein Rezept dafür, was ein guter Herrscher tun müsste, um die Gesellschaft zu befrieden. Er malt vielmehr pastose Bilder der Unauflöslichkeit seelischer Konflikte, ein Guernica aufeinanderprallender Gefühle.

Von den vielen großartigen Momenten der Aufnahme seien etwa die Arie des Sesto „Parto, ma tu, ben mio“ (ein besonderes Lob gebührt dem einfühlsamen Klarinettisten) und das Rondo „Deh, per questo istante solo“ erwähnt. Joyce DiDonato begeistert mit vollendeter Tongebung, dramaturgisch schlafwandlerisch sicherer Phrasierung, blühenden Legati, vitalen Koloraturen und einem inneren Leuchten der Stimme. Aber auch Regula Mühlemann bereitet nicht nur mit der Arie „S‘altro che lagrime“ und glockenhellem Sopran pures Opernglück. Die dramatisch hinreißende, ein wenig in der Tiefe schwächelnde Marina Rebeka bietet ein ebenso markant gezeichnetes Porträt der machthungrigen Frau wie dies Tara Erraught in der Rolle des von Servilia geliebten Annio und der schon dem Baden-Badener Mozart-Ensemble angehörende Adam Plachetka mit mächtigem Bass als Prätorianerpräfekt Publio tun.

Das bestens disponierte Chamber Orchestra of Europe und der RIAS Kammerchor lassen auch noch das Herz des abgebrühtesten Opernkenners klopfen.

Wolfgang Amadeus Mozart
La Clemenza di Tito
Livemitschnitt aus dem Festspielhaus Baden-Baden Juli 2017
Deutsche Grammophon, 2 CDs
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