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VINYL: „Hommage à Diaghilev“ – Ausschnitte aus seinen berühmtesten Balletten

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  • vinyl-illustrationIgor Markevitch dirigiert das Philharmonia Orchestra. Von Ingobert Waltenberger.

    Igor Markevitch betonte in seinen Erinnerungen 1954 an den Grand Seigneur Serge de Diaghilev zwei Aspekte: Diaghilev war auf die Künste bezogen der größte ,agent provocateur de génie‘ der Geschichte, gleichzeitig war er persönlich von Auftritt und Ideen her extrem konservativ. Er vermochte es, Künstler aus den Bereichen Musik, Ballett und bildende Kunst zu absoluten Höchstleistungen zu animieren. Es sei hier an die Kompositionen für die “Ballets Russes“ von Igor Stravinsky, Maurice Ravel oder Eric Satie genau so verwiesen wie auf die Choreographien von Fokine, Nijinsky und Massine oder die Bühnenbilder von Picasso, Braque, Utrillo, Cocteau oder Rouault. Diaghilevs Gabe bestand neben seiner Hartnäckigkeit darin, die exakt richtigen Leute zu spirituellen Höhenflügen zusammenzuführen, wie dies etwa bei de Fallas “Dreispitz” der Fall war, wo Picasso das Dekor schuf und Massine für die Choreographie verantwortlich zeichnete. 

Diaghilev konnte genau die Atmosphäre schaffen, in denen Kreativität blühte. Natürlich war er auch täglich an genau der Komposition dran, die gerade für „ihn“ entstand. Die Komponisten erhielten permanente Aufmunterungsappelle. Diaghilev schickte ihnen Partituren, von denen er annahm, sie würden die Entwicklung der (jungen) Musiker bzw. des gerade entstehenden Werks nähren. Diaghilev war süchtig nach stets Neuem. Im Moment, wo ein Stück „im Sack“ war, interessierte er sich überhaupt nicht mehr dafür. Auch der an eine Premiere anschließende Erfolg war ihm völlig gleichgültig. Diaghilev, Kunstsammler und Ausstellungsorganisator – 1909 begründete er die “Balletts Russes” – war ein ursprünglich aus der Provinz Novgorod stammender adelig russischer Exilierter mit all seinen Nostalgien, seiner Begeisterung, seinen exzentrischen Gewohnheiten. Ab 1910 prägte er als Impresario der nach der Oktoberrevolution im Ausland verbliebenen “Balletts Russes” die Pariser Ballettszene und blieb für 20 Spielzeiten der stilprägende Impresario. Von Eleganz und Charme her überaus old fashioned mit seinem Stock, Pelzen, Monokel, den weißen Handschuhen und Seidenschals fühlte sich Diaghilev in Venedig am wohlsten, wo er auch am 19.8.1929 verstarb.

Die zweite prägende Persönlichkeit der Box ist Igor Markevitch. Geboren in Kiew, so wie Celibidache, Solti, Wand, Leinsdorf oder Leitner ein 1912er-Jahrgang, floh die Familie Markevitch 1914 nach Paris, später ins schweizerische Vevey. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er italienischer Staatsbürger. Als Pianist war der neunjährige Markevitch Cortot-Schüler, dann nahm ihn Nadia Boulanger in den Fächern Kontrapunkt und Harmonielehre unter ihre Fittiche. Als Dirigent war er von Hermann Scherchen, bei dem er in der Schweiz Stunden nahm, und von Pierre Monteux geprägt. Nur wenige werden wissen, dass Markevitch ein hochinteressanter Komponist war, den Diaghilev mit der Komposition eines Klavierkonzerts und dem Ballett “L’habit du Roi” beauftragte. 1930 wurde es von den “Ballets Russes” uraufgeführt. Mit nur 29 Jahren, nach einer schweren gesundheitlichen Krise, hängte Markevitch 1941 seine Ambitionen als Komponist für immer an den Nagel und widmete sich fortan ausschließlich dem Dirigieren. Marco Polo hat Markevitch’ Orchesterwerk auf acht CDs eingespielt. Nun sind diese klanglich nur wenig befriedigenden Aufnahmen bei Naxos erhältlich.

Auf der vorliegenden Box dirigiert Igor Markevitch das in grandioser Form befindliche Philharmonia Orchestra. Der Londoner Klangkörper wurde 1945 von Walter Legge als reines Schallplatten-Orchester gegründet. Herbert von Karajan sorgte nach dem Start für das stupende Niveau. Markevitch war ein Genauigkeitsfanatiker. Wer die historischen Videos auf YouTube ansieht, dem werden seine erstaunliche Schlagtechnik, aber auch sein hypnotisch wacher Blick nicht entgehen. Den Taktstock führte er mit einer unbeschreiblichen Eleganz, aber auch mit der Schärfe eines Floretts.

In Debussys ”Prélude á l’après-midi d’un faune” oder in Ravels “Daphnis et Chloé” weiß Markevitch aufbauend auf plastisch modellierte, impressionistisch magisch kolorierte Orchesterfarben fesselnde Bögen zu spannen. Thematische Entwicklungen geht er mit langem Atem an, um dann umso markanter Höhepunkte zu entfesseln. Markevitch’ Temporegie ist von der zügigen Art, den musikalische Fluss am steten Köcheln zu halten, seine Spezialität. Emotionen lässt Markevich keinesfalls ins Kraut schießen, strukturelle Klarheit paart sich mit beinahe schon schmerzhafter Klangschönheit (habe ich überhaupt je einen vollmundigeren Flötenton gehört) und einer fulminanten Detailarbeit. Der Kontrollfreak Markevitch überlässt dabei nichts dem Zufall. 

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Besonders reizvoll ist “Parade” von Eric Satie. 1917 im Théâtre du Chatelet aus der Taufe gehoben, fußt das Ballett auf einer Idee von Jean Cocteau. Wir hören eine pompös witzige Satire aus Music-Hall Tänzen und deftigen Zirkusscharaden: Eines Sonntagnachmittags produzieren sich Künstler vor dem Zelt, um das flanierende Publikum dazu anzuregen, sich Eintrittskarten zu kaufen. Da gibt es einen chinesischen Zauberer und flammenspeienden Trickkünstler, den Tanz des kleinen amerikanischen Mädchens oder einen “Pas de deux“ der Akrobaten, der den ruhelosen Gang der Raubtiere im Käfig imitiert. Das burleske Stück wird von Markevitch in all seiner überbordenden Fantasie, dem drastisch die Realität spiegelnden Schreibmaschinengeklapper, Flugzeugmotorenbrummen und Lokpfeifen, in aller orchestralen Pracht kulinarisch dargeboten. Heute kann man sich nur schwer vorstellen, dass das Stück bei der Uraufführung für einen veritablen Skandal sorgte.

Aber auch “Le Spectre de la rose” von Weber-Berlioz, die Mazurka aus Chopins “Les Sylphides”, der Tanz des Müllers aus “Le Tricorne” von Manuel de Falla, drei Tänze aus “Petrouchka” von Igor Stravinsky oder die Ausschnitte aus “Schwanensee” von Tchaikovsky geben Markevitsch Gelegenheit, orchestrale Bravour, tänzerischen Schwung und packende Rhythmen zu fulminanten Gesamtkunstwerken verschmelzen zu lassen.

Auf zwei Repertoireraritäten sei noch gesondert hingewiesen: “Le pas d’acier” von Serge Prokofiev und “Kikimora” von Anatoli Liadov. Bietet Erstere eine plakative akustische Vorführung der in der Sowjetunion hoch gehaltenen Arbeit auf den Feldern und in den Fabriken mit einer bienentstockartigen Energie und Unruhe, das in ein maschinelles Ballett der Maschinen mündet, so rekurriert “Kikimora” auf populäre russische Tänze. Kikimora ist eine symphonische Dichtung über das Treiben einer legendenumwobenen russischen Hexe, die nachdem sie ihre weiße Hauskatze getötet hat, durch das Dach flieht, die ganze Welt mit ihren Flüchen überziehend. Die Musik dazu ist volkstümlich wie das Sujet, voller grotesker und lebendiger Details.

Das Cover der gediegenen Box “Igor Markevitch – Hommage a Diaghilev” ziert eine Illustration, die von der Bühnenbildnerinnen der “Ballets Russes” Gontscharowa entworfen wurde. Das 32-seitige Booklet mit Fotos, Kostümzeichnungen und Bühnenbildentwürfen enthält Beiträge von Igor Markevitch, Boris Kochno und Cyril W. Beaumont in englischer und französischer Sprache, die auch in der Ausgabe von 1954 enthalten waren.

Die Tontechnik in gloriosem Mono bietet nichts weniger als ein Wunderwerk an natürlicher Präsenz, stupender Tiefenstaffelung und brillantem Orchesterklang. Die Pressung auf 180 g schwerem Vinyl ist makellos. Die rund 70 Jahre alten Aufnahmen klingen wesentlich besser und unmittelbarer als vieles, was heute auf den Markt kommt.

Hinweise

Teile der drei LPs (Weber, Debussy, de Falla, Scarlatti-Tommassini, Ravel), die lange vergriffen waren, hat das Label Testament als Einzel-CD 1997 herausgebracht. Wer über keinen Plattenspieler verfügt, kann sich die Aufnahmen auch auf der 18 CD Erato-Icon-Serien Box “Igor Markevitch” anhören, allerdings in einer weitaus weniger audiophilen Qualität als auf den LPs.

2) Gleichzeitig mit den drei LPs veröffentlicht Warner eine 22-CD-Box “Diaghilev: Ballets Russes” mit den Musiken der Saisonen 1909 bis 1929.

Inhalt der drei LPs

Erik Satie: Parade
Carl Maria von Weber/Hector Berlioz “Aufforderung zum Tanz”
Claude Debussy: “Prélude a l’apres-midi d’un faune“
Maurice Ravel: “Daphnis et Chloé-Suite” Nr. 2
Peter Tchaikovsky: Schwanensee-Suite op. 20a
Frederic Chopin: Mazurka aus “Les Sylphides“ op. 33 Nr. 2
Domenico Scarlatti / Vincenzo Tommassini “Le Donne di buon Umore“
Manuel de Falla: Danza del molinero aus “Der Dreispitz-Suite” Nr. 2
Sergei Prokofieff: Le Pas d’acier-Suite op. 41
Anatoli Liadov: Symphonische Dichtung op. 63 „Kikimora“
Igor Stravinsky: 3 Sätze aus “Petrouchka”

Hommage à Diaghilev
The Philharmonia Orchestra | Dirigent: Igor Markevitch
Neuauflage der Box von 1954 mit Ausschnitten aus elf Ballettmusiken, die von Walter Legge anlässlich des 25. Todestages von Diaghilev für EMI produziert wurde
Warner Classics 2022

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