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„Unter den Elenden und Armen Berlins“

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LiteraturRezension von Barbara Hoppe.

„Wie bereits erwähnt, muß den Idioten alles konkret veranschaulicht werden und so wimmeln denn die Schulstuben von Bildern und Erklärungsgegenständen. Bei der geringen Schülerzahl jeder Klasse können sich die zwei Lehrer und zwei Lehrerinnen  […] mit jedem Kinde eingehend und genug beschäftigen.“

So schreibt der erst 24-jährige Journalist Hans Richard Fischer in seinem Buch „Unter den Armen und Elenden Berlins“ aus dem Jahr 1887 über seinen Besuch der Städtischen Irrenanstalt Dalldorf. Fast möchte man meinen, dass Ende des 19. Jahrhunderts paradiesische Zustände bei der Erziehung und Unterbringung schwieriger, kranker und verwaister Kinder und Jugendlicher herrschten vergleicht man sie mit dem Pflege- und Erziehungsnotstand von heute. Es scheint so, doch wahrscheinlicher ist, dass die Kinder nur im Verhältnis zu den üblen Zuständen auf der Straße oder den verwahrlosten Verhältnissen des Elternhauses ein gutes Leben führten. Und sie sind mit ihrem Elend nicht allein. Ausführliche Statistiken belegen, wie groß die Not in Berlin war.

Hans Richard Fischer, der selbst aus armen Verhältnissen stammt, wusste gut, wie es sich am unteren Ende der sozialen Leiter anfühlt. Als er 1883 nach Berlin kam, hatte er es allerdings bereits geschafft, als Journalist ernst genommen zu werden. Seine sachlichen Schilderungen des Elends der Weltstadt begründeten ein neues journalistisches Genre. Für seine Reportagen mischte er sich unter die Armen, zog als Bettler durch die Straßen, fand Schutz im Städtischen Asyl für Obdachlose, besuchte Erziehungs- und Besserungsanstalten, Häuser für „gefallene Mädchen“ und besagte Irrenanstalt, die tatsächlich noch bis 2006 eine Nervenklinik war.

Buchcover: Walde + Graf

Mit viel Menschenliebe besucht er die Häuser, beobachtet ihre Bewohner und spricht mit ihren Leiterinnen und Leitern. Fast überall schlägt ihm neben dem Elend auch große soziale Fürsorge entgegen. Vorbildlich für damalige Zeiten, als Berlin versuchte, der Not unter der Bevölkerung Herr zu werden und vor allem Kindern eine Perspektive zu geben. » „Unsere Aufgabe muß es sein“, äußerte der Inspektor, „dem Kinde, das draußen verkommen, seinen Eltern oder Pflegern entlaufen oder durch die Behörden hierhergebracht worden ist, seine Kindheit wiederzugeben.« zitiert Fischer den Leiter des Erziehungshauses „Am Urban“. Freilich gelingt dies nur bis zu einem gewissen Alter. Nicht alle schaffen es, ihr Leben in der Bahn zu halten. Und dem, der andere Talente als Nähen, Flicken oder Zimmern hat, werden die Flausen ausgetrieben. »Der Knabe ist ein Talent. Er schreibt die niedlichsten Gedichte nieder und sogar ein See-Roman wurde von ihm bis zum 7. Kapitel fertiggestellt. Aber da kamen die Lehrer dahinter und aus war’s. „Er träumt immer, aber er ist doch ein guter Junge,“ vernahm ich noch.« So hört es der Journalist in dem Haus für Mädchen und Knaben.

Es sind diese Notizen, durch die Fischer den Leser an seinen Gedanken teilhaben lässt. Und mit einem Blick auf die jungen Mädchen, denen aus Not oft nichts anderes bleibt als der Weg in die Prostitution, kritisiert er auch die mangelhafte Ausbildung für Frauen. Eine Ausgangslage, die zwangsläufig in Armut, Krankheit und Tod führen müsse.

Es ist tatsächlich eine einzigartige Zeitreise, auf die wir mit Hans Richard Fischer gehen. Sachlich, aber dennoch menschlich und mit dem geübten Blick des Beobachters gepaart mit der gesunden Neugier eines Journalisten führt er uns durch die Tiefen der Großstadt. Und kann doch nicht vermeiden, dass wir 21. Jahrhundert-Verwöhnten an die Grenzen unserer Vorstellungskraft kommen. Nicht nur fehlen uns die Realbilder jener Zeit. Ebenso wie der Autor fassen wir kaum den Gegensatz zwischen Arm und Reich, die sich oft nur einen Steinwurf voneinander gegenüberstehen. Gerade noch im Städtischen Asyl für Obdachlose, blendet die Pracht von „Unter den Linden“ und Villen mit Vorgärten nicht nur den Journalisten.

So sind die Reportagen ein großer Verdienst von Hans Richard Fischer, über dessen weiteres Leben recht wenig bekannt ist. Einige Jahre nach seinen Streifzügen durch Berlin siedelte er nach Mainz über, wo er für den Mainzer Anzeiger arbeitete. Weitere Stationen führten ihn zum Westfälischen Anzeiger nach Hamm und zum Hannoverschen Kurier. Nach einem kurzen Aufenthalt als freier Schriftsteller und Journalist erneut in Berlin, ließ er sich ab 1907 in Darmstadt als Chefredakteur der „Neuen Hessischen Volksblätter“ nieder. Danach verliert sich seine Spur.

Hans Richard Fischer
Unter den Elenden und Armen Berlins
Walde + Graf, Berlin 2019
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