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!Tipp: Das Irrationale von Diskriminierung, Fremdenhass und Antisemitismus findet in Arthur Miller seinen Meister

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!Tipp: Das Irrationale von Diskriminierung, Fremdenhass und Antisemitismus findet in Arthur Miller seinen MeisterRezension von Barbara Hoppe

Es ist die Brille, die alles verändert. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs lebt Lawrence Newman ein ruhiges Leben in New York. Er ist leitender Angestellter in einer großen Firma, in der er durch den Einbau von Glas statt Wänden die Effizienz einer Armee von Sekretärinnen gesteigert hat, können diese nun nicht mehr unbeobachtet Plauderpausen einlegen. Er hat ein kleines Haus in Queens gekauft, wo er mit seiner Mutter lebt. Unauffällig, ein bisschen unsicher, ordentlich und sauber, vom Wunsch beseelt, freundschaftlich mit den Nachbarn verbunden zu sein. Die erste Irritation tritt ein, als er erkennen muss, dass er nicht mehr richtig sehen kann. Als sich die Kurzsichtigkeit kaum noch verbergen lässt, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Eben mit besagter Brille. Denn plötzlich sieht der freundliche, etwas farblose Lawrence Newman „jüdisch“ aus. Seiner Mutter rutscht diese Bemerkung heraus und noch schlimmer: Seine Vorgesetzten halten ihn aus diesem Grund für nicht mehr vorzeigbar und degradieren ihn. Zutiefst gedemütigt verlässt er das Unternehmen, ohne zu ahnen, welche Schwierigkeiten auf ihn zukommen. Denn trotz des Krieges und offener Stellen speisen ihn die Personalstellen mit fadenscheinigen Entschuldigungen ab. Bis er in einem „Multikulti“-Unternehmen einen Posten findet, weitaus schlechter dotiert als sein bisheriger und unter seiner Qualifikation.

Der Abstieg des Lawrence Newman als Meisterstück der Irrationalität von Antisemitismus und Diskriminierung

„Focus“ ist der einzige Roman, den Arthur Miller geschrieben hat. Bekannt ist er eher für seine Dramen wie „Tod eines Handlungsreisenden“ oder „Alle meine Söhne“. Aber mit diesem Roman ist ihm ein Wurf gelungen, den man zur Pflichtlektüre machen sollte – und das ist durchaus als Kompliment gemeint. „Schullektüre“ hat etwas zutiefst Vermieftes, Dröges und Belehrendes und man mag es kaum aussprechen, doch gehört Arthur Millers Roman nicht nur hierhin. In Zeiten, in denen allerorts rechte Gesinnungen gesellschaftsfähig werden und sich in Wahlen manifestieren, Zeiten, in denen Flüchtende grundlos als Gefahr gebrandmarkt und Religionen zu Abschottung und Ausgrenzung benutzt werden, kann man nicht genug die Nase jedes Einzelnen auf dieses völlig irrationale Verhalten stoßen. Will man über das Bedrückende, zutiefst Erschütternde des Romans schreiben, tappt man dummerweise unweigerlich in die Falle, die Arthur Miller uns und seinem Protagonisten stellt: Wir müssen unterscheiden zwischen „jüdisch“ und „arisch“. Selbst Opfer von einem äußerlichen Urteil, zögert Lawrence Newman keine Sekunde, um zu konstatieren, dass ihm in der U-Bahn „ein Jude“ gegenüber sitzt. Diesem Menschen steht dies zweifellos nicht auf der Stirn geschrieben. Und doch gibt es Zuschreibungen, die nicht nachzuvollziehen sind.

Arthur Miller_Focus
Coverabbildung © Edition Büchergilde

Mit der Brille zur Klarsicht

Lawrence Newman ist kein dummer Mann. Und so merkt er, wie machtlos er der Entwicklung seiner Ausgrenzung und der antisemitischen Hetze gegenübersteht. Verschärft wird die Lage durch die Frau, die er heiratet und die er zunächst für eine Jüdin hielt (und der er natürlich erst einen Antrag macht, nachdem dieser Punkt geklärt ist). Entlarvend die Textpassagen, in denen er das anfangs als „schäbig jüdisch“ wahrgenommene Kleid plötzlich als „farbenfreudig und phantasievoll arisch“ empfindet.

„Als Jüdin war sie ihm vorstädtisch gekleidet erschienen, geschmacklos und schäbig-elegant. Doch als Arierin fand er sie in demselben Kleid einfach farbenfreudig – eine Frau, die ihre Phantasie in ihrer Kleidung manifestiert.“

Eine Entwicklung, der sein Umfeld nicht folgt. In der Wohnsiedlung organisiert sich die „Christliche Front“, die mobil macht gegen Juden und die „Säuberung“ des Viertels anstrebt. Ein Viertel, in dem de facto nur ein „echter“ Jude lebt, nämlich der kreuzbrave Süßwarenhändler Finkelstein. Und eben Lawrence Newman, der Jude, der keiner ist und dem seine Brille zunehmend die Augen öffnet. Sein Umfeld macht aus ihm, was er nie sein wollte. Genauer: Es sieht nicht den Menschen Lawrence Newman, sondern „den Juden“ mit allen eingebildeten Attributen. Lawrence Newman muss Stellung beziehen, ein schmerzhafter Prozess, der gleichwohl sein Selbstbewusstsein stärkt und ihn bereit macht für den Kampf. Es ist der einzige Trost, mit dem uns Arthur Miller zurücklässt.

Arthur Miller
Focus
Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2017
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Die Neuauflage in der Edition Büchergilde ist illustriert mit 20 farbigen Holzschnitten der Grafikern Franziska Neubert. Ihre Bilder zeigen die düster-bedrohliche Atmosphäre und erinnern vage an Edward Hopper, auch wenn man mit dieser Einschätzung wahrlich keinem der beiden Künstler gerecht wird. Ein wertiges, sehr schönes Buch, das dem Inhalt des Romans einen würdigen Rahmen verleiht.

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