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Theater für die Allerkleinsten: FRATZ international

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Barrieren überwinden und den Zugang zu Kunst und Kultur erleichtern ist das erklärte Ziel des Theaterfestivals FRATZ international seit 2013. Barbara Hoppe sprach mit Dagmar Domrös, künstlerische Leiterin des Theater o.N. und Mitglied der Festivalleitung und darüber, was es bedeutet, für ein Publikum zwischen 0 und 6 Jahren zu spielen.

Feuilletonscout: FRATZ gibt es seit 2013. Wie und wann kam es zu der Idee?
Dagmar Domrös: Als die neue künstlerische Leitung des Theater o.N. 2010 startete, hatte sie sich zwei Schwerpunkte gesetzt: „Theater für die Allerkleinsten“ und „Über den Kiezrand“ hinaus; Sprich: es war uns wichtig, unsere Angebote nicht nur im gut situierten Prenzlauer Berg zu machen, wo unser Theater beheimatet ist, sondern wir wollten auch in weiter außerhalb gelegene Stadtbezirke gehen, wo sonst nur wenig kulturelle Angebote für Kinder zu finden sind. Etwa zur gleichen Zeit und mit den gleichen Ideen und Zielen hat sich auch der Wunsch geformt, ein internationales Festival für die ganz jungen Kinder in Berlin zu etablieren. In der Konzeption von FRATZ stand zur Gründungszeit (2013) vor allem das Pariser Festival „Premières Rencontres“ Pate, das von der Theatermacherin Agnès Desfosses ins Leben gerufen wurde. Mit großem Erfolg wurden und werden dort internationale Produktionen aus dem Segment Theater für die Jüngsten in den Banlieues gezeigt. Damit setzt das Festival in Paris ein deutliches Zeichen gegen Rassismus und Ausgrenzung. Auch wir möchten uns mit der Festivalstruktur von FRATZ für ein dezentrales Kulturangebot einsetzen und der zunehmenden Spaltung der Stadt etwas entgegensetzen. Dies ist, wie wir erfahren haben, besonders in der Kunst und Kultur für kleine Kinder wichtig, da hier weite Wege eine reale Barriere für Teilhabe darstellen. Die eingeladenen Inszenierungen werden aus diesem Grund neben den Spielorten in Mitte und Prenzlauer Berg (Theater o.N., Podewil, GRIPS und anderen Theatern) auch in Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen sowie Theatern in Neukölln, Lichtenberg, Schöneberg und im Wedding präsentiert.In diesem Sinne versteht FRATZ sich als Publikumsfestival. Gleichzeitig soll das Festival ein Forum für einen künstlerischen und fachlichen Austausch bieten, nationale und internationale Fachleute, Scouts und Kurator:innen nach Berlin locken und neue Arbeitszusammenhänge stiften. Als wir vor über zehn Jahren begannen, uns mit dem Theater für die Jüngsten zu beschäftigen, da hinkte Deutschland der internationalen Entwicklung noch zwanzig Jahre hinterher, ein großes Pilotprojekt des Kinder- und Jugendtheaterzentrums hatte von 2006-2009 das Wirkungsfeld hierzulande gerade erst geöffnet. Wir wollten Inszenierungen aus den skandinavischen Ländern, Großbritannien, Benelux und Frankreich einladen, um Theaterschaffenden zu zeigen, was alles möglich ist im Theater für sehr kleine Kinder.

FlipFlop / Foto: Zé de Paiva & Kathleen Kunath

Feuilletonscout: Ist es schwierig, so junge Kinder für das Theater zu gewinnen? Wie unterscheidet es sich zu Kinder- und Erwachsenentheater? Was muss es bieten, um attraktiv zu sein?
Dagmar Domrös: Eigentlich unterscheidet sich das Theater für die sehr kleinen Kinder gar nicht vom Theater für ältere Kinder oder Erwachsene. Die Stücke erzählen etwas über die Welt und sie tun dies auf eine ästhetisch reizvolle Weise. In der Arbeit für die Jüngsten haben wir eine besondere Sorgfaltspflicht und Verantwortung: bei uns haben die Kinder oft ihre allerersten Theatererlebnisse, die sie prägen. Die kleinen Kinder haben keine Erwartungen und sind offen für alles. Die Stücke sind meistens etwa eine halbe Stunde lang, das entspricht der Aufmerksamkeitsspanne kleiner Kinder. Anschließend sind die Kinder oft eingeladen, selber noch aktiv zu werden, mit den Materialien, die auf der Bühne genutzt wurden, zu spielen.
Es gibt auch nur selten eine Handlung im klassischen Sinne mit psychologischen Figuren. Stücke für die Allerkleinsten sind oft sinnliche Performances, die auf unterschiedlichen Ebenen funktionieren. Ich erzähle gerne das Beispiel von einem Stück, wo mit unterschiedlichen Objekten aus dem Haushalt kleine Situationen des Lebens dargestellt wurden. In einer Szene zerbricht eine alte, goldene Kaffeekanne, die das Publikum eben noch mit einer anderen Kanne auf einem Plattenteller zur Musik von Frank Sinatra tanzen sah. Ein Raunen geht durch das Publikum, alle sind irgendwie berührt. Das kleine Kind sieht eine kaputte Kanne und möglicherweise den Skandal eines zerstörten Spielzeugs, während die Erwachsenen das Geschehen mit allen Gefühlen und Erinnerungen, die mit dem Tod und Verlust eines Menschen verbunden sind, aufladen. Beide Zuschauer:innengruppen sehen das Gleiche und sie teilen eine bestimmte Qualität der Bilder, eine Stimmung und Atmosphäre. Doch jeder nimmt das Gesehene seinem Erfahrungshorizont entsprechend wahr. Der ästhetische Genuss wird zum gemeinsamen Erleben, ein Erfahrungsraum über die Generationen hinweg öffnet sich. Voraussetzung, damit dies funktioniert, ist, dass die Theaterschaffenden die kleinen Kinder als Publikum ernst nehmen. Es geht nicht nur darum, sie zum Lachen zu bringen, sondern etwas von sich selber preiszugeben.
Die Haltung der Künstler:innen gegenüber den Kindern, die Lenkung der Aufmerksamkeit, die Konzentration auf der Bühne, Dauer und Rhythmus der Inszenierung – das muss alles sehr präzise und stimmig sein, damit die jungen Zuschauer:innen bei der Stange bleiben. Wenn es gelingt sind es sehr glückvolle Theatermomente, die da entstehen. Besuchen Sie mal eine Kita-Vorstellung am Vormittag, das macht richtig gute Laune!

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Diorama / Foto: Mathias Theisen

Feuilletonscout: Wie erleben Sie dieses sehr junge Publikum, das zwischen 0 und 6 Jahren alt ist?
Dagmar Domrös: Das Aufregende am Theater für die Jüngsten ist, dass unser Publikum die Konventionen des Theaterbesuchs noch nicht kennt. Wenn ein Stück langweilig ist, dann bleiben sie nicht höflich und ruhig sitzen, sondern gähnen, krabbeln los oder sagen, dass sie jetzt gehen möchten. Es ist also ein erfrischend ehrliches und kritisches Publikum. Am liebsten mag ich die Vorstellungen für Kita-Gruppen. Wenn ich morgens um halb zehn vor unserem Theater stehe und die Gruppen die Straße heraufkommen sehe, mit ihren leuchtenden Warnwesten und voller Vorfreude, dann sind alle gelegentlich aufkommenden Sinnfragen wie weggewischt. Ich habe größten Respekt vor den Erzieher:innen, die sich mit den ganz Kleinen auf den Weg machen. Da ist schon der Weg von der Kita zum Theater ein großes Abenteuer, häufig sogar inklusive Tram- oder U-Bahnfahrt. Auch das müssen wir mitbedenken, wenn wir Theater für diese Zielgruppe anbieten. Der Ausflug beginnt mit dem Weg, dann ist es von großer Bedeutung, wie wir die Kinder im Foyer empfangen. Manche sind sehr aufgeregt, manche sind ängstlich. Wir begrüßen sie und möchten allen das Gefühl geben „es ist okay“. Wenn die Kinder während der Vorstellung reinrufen, ist es erwünscht, wenn, sie Angst haben, dann können sie in Begleitung kurz den Raum verlassen und wieder zurückkommen. Manchmal haben die Eltern oder Erzieher:innen Bedenken, dass ihre Kinder sich nicht angemessen verhalten. Diese Ängste versuchen wir Ihnen zu nehmen, damit alle sich entspannen können.

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Boks / Foto: Laure-Anne Iserief

Feuilletonscout: Welche Herausforderungen haben dabei die Mitwirkenden?
Dagmar Domrös: Die Spielerinnen und Spieler, die zum ersten Mal für die Jüngsten spielen, fühlen sich oft etwas unsicher, weil die ganz Kleinen, bevor sie sprechen können, uns noch fremd sind. Wir können sie schwerer einschätzen. Sie sitzen dort mit großen, ernsten Augen, alle Sinne weit geöffnet. Der Amüsierwille setzt in meiner Erfahrung eher so mit drei Jahren ein. Im Probenprozess bringen wir daher schon früh Kita-Gruppen hinein, damit die Beteiligten Erfahrungen sammeln können. Für die kleinen Kinder ist der Heizkörper im Bühnenraum möglicherweise genauso interessant wie das, was auf der Bühne passiert, weil sie noch nicht wissen, wohin sie ihre Aufmerksamkeit lenken sollen. Sie beschäftigen sich zwischendurch mit anderen Dingen und kehren dann zum Bühnengeschehen zurück. Das muss man wissen, damit es einen nicht aus der Konzentration bringt. Umgekehrt ist es sehr wichtig, dass die Spieler:innen den Kontakt zu ihrem Publikum aufbauen. Die Kinder müssen merken, dass das Bühnengeschehen mit ihnen zu tun hat, dass sie gemeint sind.

Feuilletonscout: Woher kommen die teilnehmenden Theatergruppen?
Dagmar Domrös: In diesem Jahr haben wir Theatergruppen aus Nigeria, Südafrika und zwei Theater aus Belgien eingeladen. Dazu kommen Berliner Produktionen, die häufig ebenfalls von internationalen Teams erarbeitet wurden.

Feuilletonscout: Welche Stücke erwarten die Zuschauerinnen und Zuschauer dieses Mal?
Dagmar Domrös: Bei FRATZ 2022 haben wir einen Schwerpunkt Tanz. Fünf Inszenierungen sind Tanzstücke: Die Theater o.N.-Premiere von Flip-Flop (2+) beschäftigt sich mit Veränderungsprozessen, die uns ermöglichen die Welt mit anderen Augen zu sehen. Die Tänzerinnen Nasheeka Nedsreal und Cintia Rangel erkunden darin dekoloniale Prozesse auf Augenhöhe mit den Kindern und finden spielerische, ermächtigende Zugänge zu dem komplexen Thema. Die Inszenierung Tah Dam! (2+) aus Kapstadt bringt traditionell afrikanische und klassisch westliche Musik und Bewegungen zusammen und schafft Bilder der Elemente Wasser, Luft und Erde. Die belgische Kompagnie DeSpiegel erzählt in Boks (1,5+) von zwei Menschen, die auf engstem Raum miteinander klarkommen müssen. Außerdem zu sehen zwei Arbeiten aus Berlin: In Harvest (3+) von der Berliner Choreografin Isabelle Schad erschaffen die Tänzer:innen mit Weidenstäben eine faszinierende Dynamik und Konzentration im Raum, die auf ein Publikum jeden Alters überspringt. Und fragil (3+) zeigt in poetischen Bildern, dass wir stark sind, wenn wir uns verletzlich zeigen.
Wer die Vielfalt der Formen im Theater für die Jüngsten erleben will, kann mit der Performance KOLOFU(Nigeria), das die Schönheit der Farben feiert, dem Objekttheater Diorama (Belgien), das von einem Tag erzählt, als die Sonne nicht rund, sondern quadratisch aufgeht und dem neuen Musiktheater des Theater o.N., Bubbles(Deutschland), das die Klangwelt des Wassers erkundet, aber auch andere Genres kennenlernen.

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Bubble / Foto: Martin Koos

Feuilletonscout: Was möchten Sie Ihren kleinen und großen Zuschauerinnen und Zuschauern mitgeben bzw. vermitteln?
Dagmar Domrös: In erster Linie möchten wir ein Freizeitangebot Kinder und Erwachsene schaffen. Eine Theateraufführung bietet die Möglichkeit für ein gemeinsames Erlebnis, was verbinden kann. Die von uns präsentierten Inszenierungen laden dazu ein, die Welt als ein vieldeutiges, komplexes Gebilde wahrzunehmen und ermutigen dazu, sich ein eigenes Bild zu machen, eine eigene Geschichte zum Gesehenen zu erfinden. Es gibt kaum Festlegungen. Wenn wir eine Botschaft verfolgen, dann ist es vermutlich der Glaube an eine plurale, offene Gesellschaft und das lässt sich tatsächlich auch schon in sehr jungem Alter vermitteln.

Feuilletonscout: Welches Feedback ist für sie das schönste?
Dagmar Domrös: Wenn ich in einer Vorstellung sitze und merke, dass die Erwachsenen und Kinder gleichermaßen gebannt sind. Meist schauen die Erwachsenen die Stücke durch die Augen ihrer Kinder, aber es gibt diese schönen, kleinen Momente, wo sie dies vergessen und sich selber im Zuschauen verlieren. Wenn dies passiert, hat sich für mich alles erfüllt: ein generationenübergreifendes Theater für alle.

Feuilletonscout: Noch ein Wort zum begleitenden Symposium: Was umfasst es und wer kann daran teilnehmen?
Dagmar Domrös: Bei jedem FRATZ wollen wir die Chance nutzen, mit den beteiligten internationalen Künstler:innen, Fachbesucher:innen und natürlich auch Besucher:innen, die sich genauer mit dem Theater für die Jüngsten beschäftigen möchten, in einen Austausch zu kommen. Wir befragen unsere Kindheits- und Menschenbilder, vergleichen unsere Arbeitsbedingungen, beleuchten ein bestimmtes Genre und tauschen uns darüber aus, welche Themen gerade in der Luft liegen. In diesem Jahr beschäftigen wir uns mit Tanz für die Jüngsten, mit Dekolonialität und auch wieder mit einem Thema, was uns seit 2013 stets begleitet: Theater auf Augenhöhe mit den jungen Zuschauer:innen. Es gibt Gesprächsformate, z.B. mit den Beteiligten der Produktionen aus Nigeria und Südafrika oder eine Zoom-Schalte zu einem Kindertheater in Hongkong, aber auch einen praktischen Tanzworkshop mit Isabelle Schad für alle Interessierten an Aikido sowie einen intergenerationellen Natur-Kunst-Workshop „Hurra, wir folgen euch!“im Grünen. Der richtet sich an Familien mit Kindern zwischen 6 und 10 Jahren.

Vielen Dank für das Gespräch, Dagmar Domrös!

FRATZ international
Begegnungen | Symposium | Festival
13. – 19. Mai 2022

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