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Theater als Hartes Brot

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Begabtes Jungschauspieler-Quartett tritt im Kgl. Marstall zu München in der Tragödie »Teile (Hartes Brot)« von Anja Hilling an. Julia Hölscher inszeniert ein zeitlos-modernistisches Kammerspiel. Von Stephan Reimertz.

Wissen Sie noch, was Sie am Abend des 15. April 2019 gemacht haben? Uns erschrak auf TV5 der Großbrand von Notre-Dame. Wie zu einem Gebetbuch griff ich zur Ausgabe der Gedichte von Paul Claudel, schlug irgendeine Seite auf und las:
O les longues rues amères autrefois et le temps où j’étais seul et un !
La marche dans Paris, cette longue rue qui descend vers Notre-Dame !

(Magnificat)

Die Übergänge sind fließend von Paul Claudels lyrischem in seinen Dramenstil. Auch in Le pain dur geht er von solchen Langzeilen aus. Allerdings ist der Stil völlig anders aufgeladen. Claudel sprich hier von »ständiger Ironie«. Trocken, hart und prosaisch ist die Tonalität, entsprechend der düsteren Handlung des Stücks, des härtesten dieses auch in Deutschland so überaus populären französischen Autors.

Ein neues Stück im Retro-Modernismus

Teile (Hartes Brot) nennt sich die weitgehende Bearbeitung von Anja Hilling, so weitgehend, man kann von einem selbständigen Vier-Personen-Stück sprechen und die Frage in den Raum stellen, ob der Bezug auf Claudel das neue Stück nicht eher belastet. Zu groß und umfassend sind die Erwartungen des deutschen Publikums an ein Stück des vielgespielten und beliebten Autors. Positiv gewendet kann man sagen, Anja Hillings Version besitzt einen entschiedenen Eigenwert. Die Inszenierung Julia Hölscher im Kgl. Marstall und die Bühne von Paul Zoller spitzen alles auf einen Retro-Modernismus zu.

v.l. Nicola Mastroberardino, Mareike Beykirch © Sandra Then

Der Tonfall der Erben

Turelure (hier: »Lord«, Nicola Mastroberardino) ist in den 1840er Jahren gealtert und lebt mit seiner Geliebten, Sichel, einer Jüdin, zusammen. Bei Claudel klingt ihr Name deutsch: Sichel Habenichts; bei Hilling nur Sichel. Nicola Kirsch spielt eine interessante, nicht leicht zu durchdringende Figur mit Kurzhaarschnitt. Mastroberardino trifft den aasigen Ton des Vaters und Firmenchefs, der seine Geliebte tyrannisiert, perfekt. Auch die anderen drei Schauspieler haben sprachlich keinerlei Probleme mit dieser Komplexitätsreduktion des Claudelschen Stücks. Mit dem seit Jahrzehnten dem Ohr vertrauten Jungschauspieler-Nölen bringen sie aus der Schrumpfform von Le pain dur eine eigene Komplexität hervor, die dem degenerierten Westen von heute völlig angemessen erscheint. Sie müssen sich nur selbst spielen.

v.l. Mareike Beykirch, Nicola Mastroberardino, Nicola Kirsch © Sandra Then

Moderne von 1960?

Es hat wenig Sinn, die komplexe Handlung des verqueren Familiendramas hier erschöpfend wiederzugeben. Janina Brinkmann tut den vier Protagonisten Kostüme an, die an diverse Inszenierungen vom Ring des Nibelungen erinnern, bei dem es sich ja ebenfalls um ein düster-perverses Familiendrama handelt. Das Metallgestell, welches die Bühne ausfüllt, auf gleicher Höhe mit den Zuschauern in dem an ein einziges Bühnenhaus erinnernden Marstall, wird stetig gedreht. Bei all ihrer schauspielerischen Dynamik und inszenatorischen Brillanz tritt die Produktion in historischer Hinsicht auf der Stelle. Sitzen wir hier im Schauspielhaus Bochum bei Peter Zadek in den sechziger Jahren? Bei Klaus Peymann in Stuttgart zehn Jahre später? Oder bereits im Residenztheater, allerdings unter Kurt Meysel anno 1980? Vermuffter Moderinismus der sechziger Jahre, der sich allerdings für die Avantgarde von heute hält – das erwartet man doch eher in Berlin als in München.

Noch eine Aufführung im Residenztheater München am 23. und 24. Juli 2021.

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