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Revolutionärer Inhalt, muffig abgepackt. Oskar Maria Grafs „Minutengeschichten“ in einer umfassenden Neuausgabe

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Revolutionärer Inhalt, muffig abgepackt. Oskar Maria Grafs Minutengeschichten in einer umfassenden NeuausgabeStephan Reimertz liest und staunt.

Es gibt charmante Umschreibungen, mit denen ein Schriftsteller andeutet, dass er Kurzgeschichten vorzulegen gedenkt, in welchen die ganze Welt in einer Nussschale zusammengefasst ist. Kawabata Yasunari spricht von seinen Handtellergeschichten, dagegen definiert Oskar Maria Graf die Kürze seiner Erzählungen nicht räumlich, sondern zeitlich und nennt seine unterhaltsamen und präzisen Studien Minutengeschichten. Kawabata sammelte seine Kurzgeschichten seit den dreißiger bis in die fünfziger Jahre. Von wann die Texte Oskar Maria Grafs stammen, ist in der neuen Ausgabe der Minutengeschichten im Ullstein Verlag nicht nachzuvollziehen, denn der Herausgeber gibt lediglich die Erstveröffentlichungen an, die oft Jahre oder Jahrzehnte später erfolgten.

Wilfried F. Schoeller  bringt alles mit, was ein idealer Herausgeber braucht, außer den Grundlagen. So ist der Geburtsort des Schriftstellers das auf steilen Hügeln im Voralpenland liegenden Dorf Berg am Starnberger See. Schoeller schreibt, Graf stamme vom »flachen Land«! Wer heute den steilen Berg neben dem Wittelsbacher Schloss hinaufsteigt, um im Dorfkern von Berg Grafs Geburtshaus zu besuchen, wird in dem niedrigen Gebäude die Atmosphäre wiederfinden, die er aus Grafs Roman Das Leben meiner Mutter kennt, auch wenn sich hier nicht mehr jene Bäckerei befindet, in der die Familie Graf so hart gearbeitet hat. Wer in die Gaststätte einkehrt, begibt sich auf Zeitreise ins Graf-Land. Nur eines verwundert, wenn man sich vor dem Haus umschaut: Oskar Maria Graf hat alle die Porsches, Jaguars und Bentleys gar nicht erwähnt, die in Berg herumstehen. Das arme Bauerndorf ist inzwischen zum Reichenkaff mutiert.

Graf definiert die Rhetorik des bayrischen Humors als Technik der Pointe. »Auf uns Bayern, die wir alle aus dem Bäuerlichen kommen, wirkt nur jener Humor, der zum Schluss irgendwie überrascht und nachdenklich macht.« Der neue Band, gut dreihundert Seiten umfassend, bietet als Eröffnung einen Essay Grafs über den bayrischen Humor. Die Sammlung der Minutengeschichten bringt dann manches bisher Unveröffentlichte. Für die unterschiedlichsten Zeitungen und Zeitschriften verfasst, oft zu Lebzeiten des Dichters nicht mehr veröffentlicht, präsentieren die Minutengeschichten das Universum Oskar Maria Grafs in nuce. Der Ullstein Verlag bezeichnet seinen Autor in der Sprache der dreißiger Jahre als »Volksschriftsteller« und leistet ihm damit einen Bärendienst. Die Sprache des Schriftstellers Oskar Maria Graf ist mitnichten ein bajuwarisches Kunstidiom. Vielmehr suchen die Minutengeschichten sich authentisch und respektvoll sozialen Sonderlingen zu nähern und historische Momente wie im Blitzlicht festzuhalten. Sie sind Teil der modernen deutschen Literatur.

Graf präsentiert sich als erzählerische Urgewalt. Er sucht die Kultur des Alltags der normalen Menschen, die von der Geschichte gebeutelt und hin und her geworfen werden, und die dennoch den Kopf oben behalten, sich ihren Schneid und Humor nicht abkaufen lassen. Und so befremdet es den Leser, dass diese Texte in einer Ausgabe präsentiert werden, deren typographische und buchgestalterische Ästhetik den späten siebziger bis frühen achtziger Jahren entspricht. Für den revolutionären Autor Graf, der sich sein Leben lang gegen Nationalsozialismus und neokapitalistisches Spießertum wandte, ist dies eine unangemessene Präsentation. Seine Texte werden darin idyllisiert, ihnen wird die Sprengkraft genommen. Oskar Maria Graf erheischt eine Ausgabe nach neuesten Editionsprinzipien statt in einer Geschenkbuchfassung. Eine Neuausgabe der Schriften Grafs verdient eine Ästhetik von 2017 statt von 1980. Aber stecken Sie eine Bombe in eine geschmacklose Schachtel. Sie wird dennoch explodieren!

Oskar Maria Graf
Minutengeschichten
Ullstein Verlag, Berlin 2017
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Coverabbildung © Ullstein Verlag

 

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