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Renaissance der Vorurteile. Warum Peter Ustinovs letztes Buch auch heute noch aktuell ist

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Renaissance der Vorurteile. Warum Peter Ustinovs letztes Buch auch heute noch aktuell istVon Carsten Schmidt 

Der vielsprachige, kosmopolitisch-geprägte Welt-Intellektuelle Peter Ustinov schrieb mehr als zwanzig Bücher. Sein letztes Buch „Achtung, Vorurteile“ beendete er 2003 wenige Monate vor seinem Tod. Es ist nicht nur das einzige Buch, welches Sir Peter auf Deutsch schrieb, sondern nach seinen Worten auch jenes, das ihm am Wichtigsten war: „Mehr als die meisten Künste, in denen ich mich in meinem Leben versucht habe, ist dieses Buch über Vorurteile mein Vermächtnis.“

Seine Bedeutung hat das Buch bis heute nicht verloren. Nun befinden wir uns nicht nur in einer Phase des Wahlkampfes im eigenen Land – wobei sich herrlich über In-Group und Out-Group Phänomene schreiben ließe. Auch international scheinen viele eine gewisse Unruhe und Gereiztheit festzustellen – verstärkt durch die noch andauernde Präsidentschaft des narzisstischen, vorurteilsbefüllten D. Trump, durch zahlreiche Anschläge sowie eine beinahe zerrissene, schwankende Lagerentwicklung zwischen Links und Rechts auf dem europäischen Kontinent.

Es scheinen viele Zweifel zu bleiben. Schafft die Weltgemeinschaft die Klimaziele ohne die USA? Was geschieht nun beim Brexit? Sind in Frankreich und anderswo wirklich die erstarkten Rechtspopulisten zurückgedrängt worden?

Aber die Menschen mit Zweifeln sind heutzutage vielleicht doch die entschlosseneren, zur Gestaltung der Zukunft überhaupt beizutragen, wohingegen diejenigen, die vorgeben, alles exakt zu wissen, auch oft die sind, die am Status quo starr festhalten oder sogar das Rad der Geschichte weit zurückdrehen wollen. Peter Ustinov sah im Zweifel einen ganz wichtigen Mitstreiter in der heutigen Zeit. Er fragt in seinem Buch eingangs: „Was ist ein schlagenderer Beweis für den Wahnsinn als die Unfähigkeit zu zweifeln?“

Der Wahnsinn steht hierbei für Ustinov für viele, die Vorurteile gebrauchen, um ihre verengten Meinungen und Stimmungen zu verbreiten und letztlich Chaos zu stiften. Laut Ustinov sind die schrecklichsten Verbrechen aufgrund von Vorurteilen entstanden, haben sich entflammt und konnten wüten: „Das Vorurteil ist der womöglich größte Schurke in der Geschichte von uns Menschen.“

Dabei geht Ustinov vielen Vorurteilen auf den Grund und geht zurück zu einem der ältesten in Schriftform festgehaltenen – nämlich dem Vorwurf, Juden seien rachsüchtig. Tatsächlich basierte die von Ustinov zitierte Bibel-Stelle „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ auf einem klassischen Übersetzungsfehler im Hebräischen. Es hieß vielmehr „Auge für Auge“, worauf Ustinov meint: „Die Maxime fordert im Original also nicht das Opfer zur Rache, sondern den Täter zur Wiedergutmachung auf. Schon ist es mit dem Vorurteil vom rachsüchtigen Juden vorbei.“ Der Autor selbst kannte bis zu seinem 80. Lebensjahr aus seiner eigenen Herkunftsgeschichte äthiopische, deutsche, russische und französische Elemente. Doch spät in seinem Leben erfuhr er, dass sich auch jüdische Wurzeln bei seinen Urgroßeltern fanden. Ustinov lässt die Leser bei diesem Thema an einer Anekdote teilhaben, die ihm im angeblich so liberalen Manhattan 1968 wiederfuhr. Sein Agent suchte für ihn eine Wohnung und tat sich sehr schwer damit. Die Türen wollten sich nicht öffnen. Eine alte New Yorker Dame war schließlich bereit und stand kurz vor der Unterzeichnung des Mietvertrages, als sie den Agenten fragte: „Ustinov. Was für ein Name! Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass der Mieter Jude ist. Er muss Jude sein mit diesem Namen! – Nein, er ist Russe. – Russe, das ist ja noch schlimmer!“

Buchcover © rowohlt Verlag

Was der Autor nahezu liebevoll und in seiner unnachahmlich weisen, großväterlichen Art schafft, ist aufzudecken, wie oft Vorurteile wie in dieser Anekdote auf Unkenntnis, Verallgemeinerung, Verkürzung und Ignoranz basieren – aber auch, welch soziale, ja gesellschaftliche Kraft sie entwickeln können: „Vorurteile sind Marmorplatten, die unter sich ihre größten Rivalen, den Zweifel und die Wahrheit, begraben.“ Und es scheint genau die Kraft des Festhaltens zu sein, die es den Trägern von Vorurteilen so schwermacht, sich zu öffnen. Ustinov schreibt: „Vorurteile sind vernagelte Türen zu Zimmern, in die kein frisches Lüftchen dringt.“

Dabei stellt er fest, dass es auch eine Frage der Haltung ist, ob man Vorurteile „pflegt“ oder nicht, ähnlich der Haltung, ob man eher ein positives oder ein negatives Menschenbild hat: „Ich bin der Überzeugung, dass bei der Infizierung mit nur einem Vorurteil das Tor für alle anderen geöffnet wird, dass schon beim kleinsten Insektenstich die ganze Krankheit ausbricht. Ich kenne niemanden, der nur ein Vorurteil gegen fremde Menschen hat und sich neben denen kein anderes leistet.“

Vorurteile gedeihen durch Verdächtigungen, Klatsch und üble Nachrede. Ustinov aber muss auch konstatieren, dass sie nie aus zu viel Wissen, sondern immer aus einem Unwissen heraus, aus einer Uninformiertheit entstehen.

Er selbst – der die Schule nach der 10. Klasse abbrach – erkannte darin für sich nicht nur einen Auftrag als Autor, sondern auch als akademischer Mentor. So gründete er an seinem Lebensende drei Lehrstühle zur Forschung an Vorurteilen – einen an der englischen Universität Durham sowie zwei weitere in Budapest und Wien, wo Ustinov selbst unterrichtete und später der renommierte Psychologe Horst-Eberhard Richter lehrte.

Für Peter Ustinov, der sich im Laufe seines Lebens einen derart weiten Horizont erarbeitet hat, ist klar, dass es die eigene Erfahrung ist, die uns immer wieder einen Streich spielt. Sie begrenzt uns oder lässt uns weiter denken: „Jeder und jede kann sich zur Regel machen, nur solche Ansichten zu akzeptieren, die er oder sie durch eigene Erfahrung überprüft hat.“

Dabei wirbt Ustinov auch für Verständnis bei Menschen, wo sich durch brisante Referenzrahmen oder außergewöhnliche Umstände eine übertriebene Vorsicht entwickelt. So etwa wurde er als britischer Sanitätshelfer am Kriegsende 1945 von der englischen Militärpolizei verhört, weil er mit einem Gefangenen, einem deutschen General – wenige Sätze Deutsch gesprochen hatte.

In dieser Situation ist es einem heutigen Leser einleuchtend, warum die Militärpolizei so agierte. Ein Vorurteil würde sich aber dann manifestieren, meint Ustinov, wenn sich zu Friedenzeiten die Meinungen und Ansichten nicht ändern, sondern wenn Deutsch sprechende Menschen für manche Menschen grundsätzlich verdächtig blieben. Und genau von der Verhärtung von Vorurteilen geht die Gefahr der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Abwertung aus: „Die Menschen mit hartgesottenen Vorurteilen vertreten diese häufig wie die Kreuzritter: mit Schaum vor dem Mund und mit Hass.“

Er nennt Menschen wie diese auch lebende Ausrufezeichen – und das ohne Facebook oder andere Portale überhaupt gekannt zu haben. Er meint, dass – wenn er die Schnelligkeit der digitalen Welt betrachtet – ihn grassierende Vorurteile und Fehlinformationen überhaupt nicht wundern: „Ab einem bestimmten Tempo haben wir keine Zeit mehr für den Zweifel, wir klammern uns an Vorurteile, weil sie bequem sind und uns wenigstens ein bisschen innere Sicherheit vorgaukeln.“

Peter Ustinov möchte dazu aufrufen, den menschlichen Ausrufezeichen menschliche Fragezeichen entgegenzustellen. Er meint, jeder Tag, an dem er sich irre, sei ein guter Tag.

Peter Ustinov
Achtung! Vorurteile
rowohlt Verlag, Hamburg 2005

Coverabbildung © rowohlt Verlag

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