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Plädoyer für Giuseppe Verdis „Alzira“

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Verdis Frühwerk „Alzira“ erfährt in der wallonischen Opernmetropole Lüttich eine schlüssige, gesanglich fulminante und musikalisch beachtenswerte Neuinszenierung. Von Barbara Röder.

Was für ein Fest! Mit Giuseppe Verdis vom Opernbetrieb oft verschmähter Oper „Alzira“ gibt Giampaolo Bisanti sein Debüt als neuer Chefdirigent an der alt ehrwürdigen Opéra Royal de Wallonie Liège. Das Frühwerk des 1845 emporstrebenden Jahrhundertgenies Verdi ist kaum bekannt, wird wenig gespielt oder inszeniert. In Lüttich setzten die klugen Macher des Spielplans, Generalmusikdirektor Bisanti und Intendant Stefano Pace, in der Spielzeit 2022/23 auf ein ausgefallenes, gut durchdachtes Programm: selten aufgeführte, neu zu entdeckende Raritäten und traditionelle, hochkarätige Werke des französischen und italienischen Opernrepertoires. Das wird belohnt mit einem international interessierten Publikum sowie vielen jugendlichen, neugierigen Augen und Ohren in den Vorstellungen. Das großartige Erbe, das Intendant Stefano Mazzonis di Pralafera hinterlassen hat, erfährt so weiterhin lokale und rege internationale Aufmerksamkeit in der europäischen, nach den schweren Coronasanktionen erneut aufblühenden Opernlandschaft.

Verdis „Alzira“ ist ein Œuvre, das den musikalischen Zeitgeist des 19. Jahrhunderts atmet und aus der Epoche Rossinis kommend, dessen musikdramatisches Erbe antritt

In ihrer Rezeption liest sich das „Alzira-Schicksal“ wie eine traurige, wahre Geschichte. Widerfuhr der „Tragedia Lirica“ in einem Prolog und zwei Akten Ungerechtigkeit? Verdi bietet in geballten neunzig Minuten all das, was wir von ihm kennen: auftrumpfende theatralische Dramatik und Freiheitsgedanken für unterdrückte Individuen und Völker. In Nabucco, kurz zuvor komponiert, begegnete uns dies schon einmal. In späteren Opern flicht Verdi immer wieder diese Topoi ein. Auch wohnt eine ganz besondere Eigentümlichkeit, ja Neuheit seiner „Alzira“ inne. Verdi brach in seiner feinen „opera, che è brevissima“ (sehr kurze Oper) wie „Alzira“ betitelt wurde, mit der herkömmlichen Tradition. Zum ersten Mal tauchte ein Heros mit goldener Kehle, der „tenore di forza“, auf den Brettern der tönenden Intrigen und Liebesverstrickung auf. Mit dem Tenor Gaetano Fraschini, der in der Premiere der „Alzira“ den strahlenden Siegertypus Zamoro, den Stammeshäuptling der Inkas verkörperte, wurden die gängigen Operntypen „tenore di grazia“ verdrängt. Die Stunde der Zukunft für den wahrhaftig liebenden, charismatisch agierenden und hohe Töne schmetternden Tenor schlug.

Kann es sein, dass Verdi selbst nicht ganz frei von Unschuld ist, was die Einschätzung des Werkes bei Kollegen oder der späteren Kritik betraf? Das sollte man sich fragen. Kurz nach der ersten Aufführung am 12. August 1845 in dem berühmt berüchtigten Opernhaus Teatro San Carlo in Neapel schrieb Verdi an seine Geliebte Giuseppina Appiani: „Dem Himmel sei Dank, auch das ist vorbei: ‚Alzira‘ ist aufgeführt. Diese Neapolitaner sind grausam, aber sie applaudieren“. Es sollte noch ärger kommen für Verdi und sein in Windeseile komponiertes Dreiecksdrama. Die von den heißblütigen neapolitanischen Opern-Connaisseuren im Laufe der Aufführungen kühl aufgenommene „Alzira“ verlor an Zuspruch. Kurz zuvor hatten sie die große Opern-Hoffnung Verdi und dessen „I due Foscari“ bejubelt und gefeiert. Denn Verdi war im Teatro San Carlo bei der Aufführung anwesend. Und vor der Oper in Neapel gab es ein reges Getümmel und Gedränge von Schaulustigen, die den berühmten Komponisten höchst persönlich sehen wollten. Bei „Alzira“ wendete sich also das Blatt. Das Desaster war greifbar, lag in der Luft. Verdi verspürte hautnah offene Feindschaften vonseiten der Kritiker und des Publikums. In der „Alzira“-Premiere wurde den wichtigsten Arien und Cabalettas der Hauptfiguren zwar  begeistert applaudiert, aber dann begann das Gerücht in den edlen Kreisen Neapels zu kursieren, dass „eine gelehrte Person Verdi gesagt habe, er solle Chöre, aufwendige Partituren und konzertante Nummern vermeiden, da sie in Neapel nicht beliebt seien“. Die vierte Aufführung der „Alzira“ wurde gnadenlos mit Zischlauten und Missbilligungsrufen bedacht. „Die Journalisten sind ihm alle feindlich gesinnt, wie an anderen Orten auch.“ so ein enger Freund Verdis. Was für Zeiten! Verdis Bekenntnis, „Alzira“ sei ein armes Ding, das nicht dazu bestimmt sei, „wie seine Schwesteropern auf Tournee zu gehen“, stehen dem oft zitierten Ausspruch der Gräfin Negroni gegenüber, als diese ihn Jahre später an sein Frühwerk erinnerte. Er insistierte: „Das ist wirklich scheußlich“. Waren es die Erlebnisse in Neapel zu „Alziras“ Uraufführung oder das Werk selbst, das er meinte? Lassen wir es offen und uns nicht täuschen! Ändern wir doch ein wenig die Blickrichtung:

Verdis „Alzira“ ist, mit dem Blick aus dem 18. Jahrhundert kommend, eine starke, zukunftweisende Opera Lirica. Die großen Legenden Gaetano Donizetti, Vincenzo Bellini und natürlich Giacomo Rossini waren, als Verdi als Opernkomponist durchstartete, noch immer en vogue und tonangebend. Hysterische Frauen, Schauerromantik und Wahnsinnsszenerien in Opern wie die in Donizettis „Lucia di Lammermoor“ erhitzten die Gemüter. Die Dramen Voltaires „Sémiramis“ und „Tancrède“, die Gioachino Rossini als Opern „Tancred“ und „Semiramide“ in Töne goss, waren das ganze 19. Jahrhundert im gängigen Repertoire vieler Opernhäuser zu finden. Der äußerst beliebte Librettist Salvatore Cammarano, er verfasste mehrere erfolgreiche Operntexte für Donizetti, bot Verdi Voltaires „Alzire ou les Américains (1736) als Opernstoff an, als dieser einen Auftrag für eine Oper vom Teatro San Carlo in Neapel erhielt. Das vom Humanismusgedanken Voltaires durchzogene Ideendrama hatte Cammarano bereits als Libretto fertig, als Verdi zusagte. In kürzester Zeit war die Oper komponiert. Wie in „Nabucco“ und „Ernani“ stehen vor dem Prolog (“Il prigionero”, „Der Gefangene“) und den Akten I und II (“Vita, per vita”, Leben um Leben, und “La vendetta d’un selvaggio”, Die Rache eines Wilden) Headlines . Verdis „Alzira“ spielt ebenso wie Voltaires 1736 erstmals aufgeführte Tragödie „Alzire ou les Américains“ in Lima, Peru in der Mitte des 16. Jahrhunderts zur Zeit der Eroberung durch die Spanier.

„Der Geist der Waffen hat ein Feuer entfacht“,  Foto © Jonathan Berger
Der wunderbare Chor der Opéra Royal de Wallonie-Liège und Francesca Dotto (Alzira)

 „Des Schicksals blinder Zorn“

Bühnenbauer Lorenzo Albani konzipierte für die in Liège gezeigte „Alzira“ einen recht düsteren Ort. Wir blicken zu Beginn der Oper auf ein an Seilen herabhängendes, von verdorrtem Gras und fahlem Gestrüpp überquellendes Viereck. Umrandet wird die komplette Szenerie von herabhängenden schweren Eisenketten. Es symbolisiert ein schwebendes Eiland der Furcht, der Sorge und des Leids. Auf dem Fleckchen Land kauert Alzira. Darunter und an den Seiten tummelt sich das Volk in schlammfarbenen Gewändern und peruanischen Kappen. Die Spanier tragen schwarze feine Anzüge und Zylinder. Dies assoziiert Verdis Premiere in der Opera San Carlo 1845.

Neonröhren verkünden Kälte, Gefahr und Terror. Später beginnt der Boden der Parzelle von Neonröhren aufgepumpt zu leuchten. Dann sind wir im Palast der spanischen Eroberer. Im Mittelpunkt der Oper „Alzira“ stehen, wie in allen später Verdi Œuvres, die emotionalen Verstrickungen, ausweglosen Konflikte der am grausamen Schicksal leidenden Protagonisten. Eine Dreiecksbeziehung, ein Konflikt im Privaten, der ins Politische hineingreift, spielen auch hier Hand in Hand. Alzira, Tochter des Inkakönigs Ataliba soll geopfert werden um des Friedens willen mit dem Feind, den Spaniern. Die junge Frau soll den ihr verhassten spanischen Eroberer Gusmano heiraten. Er, der die Christianisierung der wilden Inkas im Namen der Kirche mit Gewalt durchsetzte, ist besessen vom Gedanken, Alzira zu besitzen. Sein Gegenspieler ist Zamoro, Stammeshäuptling, Verlobter und Geliebter Alziras. Am Schluss, der sehr kurzweiligen hoch tragischen Oper stößt Zamora, so heißblütig wie er nun einmal ist, seinem Todfeind Gusmano einen Dolch in die Rippen. Dieser hat ein christliches Herz und er vergibt Zamora bevor er stirbt. Auf diesem sehr ungewöhnlichen Ende spricht der Humanismusgedanke Voltaires.

Regisseur und Lichtdesigner Jean Pierre Gamarra deutet in seiner Introspektion beharrlich und  unterschwellig das Problem der Kolonisierungspolitik an. Das kann global und im speziellen für Peru gedeutet werden. Denn in einem prägnanten Audioclip vernehmen wir einen Quechua-Indianer, der über die Massakern an Dorfbewohnern durch Rebellenarmeen und Regierungssoldaten berichtet. In der Höhlenszene versammeln sich trauernde Weiber. Sie halten Fotos verschollener und massakrierter Söhne, Väter oder Brüder hoch. Das ist sehr plakativ aber stringent und sehr plausibel. Wenn der vollsüffige Chor der Opéra Royal de Wallonie-Liège (Chorleitung, Denis Segond) zum omnipräsenten Trauer- oder Wutbekenntnis in dieser Szene anhebt, zeigt dies Wirkung und es schimmern eindringlich spätere Schicksalschöre aus „La Forza del destino“ oder der „Aida“ durch.

Giovanni Meoni als spanischer Gouverneur Gusmano mit seinen Mannen / Bild J. Berger – ORW-Lüttich

Verdis musikalischer Blick ins menschliche Herz

Die geballte, traurige, vermaledeite Geschichte, Katastrophe offenbart sich ab dem ersten Takt. Es herrscht Krieg. Trommelwirbel, Paukengegrummel, pfeifende Flöten sind vernehmbar. Eine einsame, traurige Klarinette verziert das Kampfgetümmel mit lyrischem Schluchzern. Verdis musikdramaturgisch genauestens kalkulierte Ouvertüre, eine Sinfonia dirigiert Giampaolo Bisanti mit kenntnisreicher, ausgefeilter Stringenz. Der Hörer spürt, dass für Bisanti „Alzira“ zu den besten Opern aus Verdis “Galeerenjahren” zählt. Das hat er freimütig in einem Interview bekannt. Die abgeschlossenen Nummern kommen unter seinem ausbalancierten Dirigat mal leichtfüßig, mal hochdramatisch daher. Bisanti weiß um die rasante Seelenpein der Figuren, die in der Struktur der Partitur steckt. Für die exquisite Stretta Kulminationen à la Rossini, gepaart mit furiosen Belcanto-Singsang und Trommelwirbeln, wurde das in Bestform aufspielende Orchester der Opéra Royal de Wallonie-Liège begeistert gefeiert. Ein Extralob gebührt den sonoren Klarinettenkantilenen, die die Oper als tönende Schicksalsfäden Alziras durchziehen.

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Alzira leidet und liebt: „Mir scheint die Welt in Liebe gehüllt“ / Bild J Berger – ORW-Lüttich
Francesca Dotto (Alzira) und Lucianao Ganci (Zamoro) liegen sich im herzzerreissenden Duett in den Armen.

In Liège bot eine herausragende Sängerelite von durchschlagender feiner Noblesse und darstellerischer Glaubwürdigkeit eine hochintensive Belcanto-Performance. Der Tenor Luciano Ganci verkörperte den heroischen, wilden, von Liebesschmerz und Kampfesüberschwang geprägten Zamoro. Ganci verfügt über ein wohlig, metallisch klingendes Timbre. Seine große Eröffnungsarie geriet zum Fest. Seine ungebändigte, durchschlagende, nimmer müde werdende Stimme könnte aber wenig mehr Pianissimo vertragen. Ganci ist par excellence jener neue Sängertypus, den Verdi zum ersten Mal in „Alzira“ als Verkörperung von Fremdheit und des Unbekannten vorsah. Zudem verleiht Verdi der Figur den Charakter, ein Mann des Volkes zu sein. Das manifestiert sich in der musikalischen Geste, Zamoro aus dem Chor heraus seine Stimme erheben zu lassen. Das ist stark, ist ein politisches Statement. Verdis Gedanken über den Kampf des Einzelnen und dem Kollektiv gegen Ungerechtigkeit, Fremdbestimmtheit und Machtmissbrauch sind der Oper „Alzira“ im Keime sowie in vielen späteren Werken immanent. Der Tyrann und Gnade waltende Gusmano wird mit baritonaler Furore von Giovanni Meoni zelebriert. Ihn möchte man öfter hören und sehen. Er ist die Idealbesetzung für das schwere Bösewicht-Verdifach. Meisterhaft gelingt ihm das erlösende Finale der Oper: die Vergebung und der Tod Gusmanos. Francesca Dotto singt eine berauschend schöne, ja inbrünstig leidende und liebend Alzira. Ihr Sopran strotzt vor überschwänglicher Eleganz und Tiefe. Ihr bravouröse, sehnsuchtsvolle Kavatine, die sie alleine auf dem tristen Strohfeld singt, bleibt in Erinnerung. Roger Joakim gibt Aziras Vater Ataliba. Er überzeugt mit balsamisch tiefen Tönen, die die Hoffnungslosigkeit eines besiegten Volkes ausdrücken. Alvaro, der Vater Gusmanos wird von Luca Dall’Amico mit großer Leidensfähigkeit und beharrlichem Glauben an das Gute im Menschen gesungen. Die Figur steht für den weisen mit Weitblick und Größe agierenden Regenten. Die weiteren Rollen waren mit Marie-Catherine Baclin als Alziras Magd Zuma, Zeno Popescu als Otumbo und Alexander Marev in der Rolle des Ovando adäquat gut besetzt.

Braut wider Willen. Alzira ( Francesca Dotto) leidet. / Bild: J Berger – ORW-Lüttich

Das ungewöhnlich kurzweilige „Alzira-Erlebnis“ in Liège zeigt, wie sehr vergessene, frühe Kompositionen großer Meister den musikphilosophischen Genius in sich tragen. Mit Jaques Offenbachs „La Vie Parisienne“ wird im Dezember 2022 Jaques Offenbachs quirlig spritzige Opera buffa auf „Alzira“ folgen. Auf die im Frühjahr 2023 vorgesehene Verdi-Neuinszenierung von „I Lombardi alla prima crociata“ in der Opéra Royal de Wallonie Liège sollten wir jetzt schon gespannt sein.

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