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Open Air mit Nachtigall und Klarinette

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Rezension von Ingobert Waltenberger.

„Und damit niemand daran zweifle, dass solches aus der Kunst komme,
so haben sie nicht alle einen gleichen Gesang, sondern eine jegliche ihren besonderen.

Vogelkunde-Pionier Conrad Gesner anno 1555.

Zu Nachtigallen habe ich ein ganz besonderes Verhältnis. Nicht so sehr wegen Shakespeare, Oscar Wilde, Percy Bysshe Shelley, Udo Lindeberg & Co. Im Innenhof des Wohnhauses in Berlin-Schöneberg, wo ich seit einigen Jahren meine Zelte aufgeschlagen habe, lässt eine Nachtigall jedes Frühjahr stolz ihren aristokratisch edlen Gesang vom Wipfel eines alten Kastanienbaumes erklingen. Ab fünf Uhr morgens darf ich mich bei offenem Fenster über die unendlich erfindungsreichen Tiraden, das virtuose Liebesgeflüster oder die belkantesken Revierbehauptungen dieses wundersamen Tiers freuen. Da gilt der Urberliner Spruch „Nachtigall, ick hör’ dir trapsen“ wohl wörtlich. Berlin ist die europäische Hauptstadt, in der der Gesang der Nachtigall am häufigsten zu hören ist. Die beste Zeit dafür ist von Ende April bis Ende Mai im Treptower Park. In Berlin gibt es nicht nur die meisten Nachtigallen, sondern auch die besten Nachtigallen-Forscher in einem Institut der Freien Universität in Dahlem. So lange die Nachtigallen hier alltäglich konzertieren, darf Berlin als eine begehrenswerte Stadt gelten.

Der Gesang des Nachtigallmännchens – denn nur diese singen – besteht aus jeder Menge an Strophen, über die genaue Anzahl finden sich im Internet widersprüchliche Angaben, so an die 150-200 werden es schon sein. Da gibt es prachtvolle Melodien, parallel geführte Stimmen, Gezwitscher, Triller, Verzierungen aller Art. Wäre die Nachtigall eine Opernsängerin, sie wäre ein Koloraturalt. Fast immer bewegt sich ihr kunstvoll improvisierter Gesang in der Mittellage. Sie/Er ist aber ganz und gar Bühnentier, privat gibt man sich bescheiden. Um prunkvoll eitles Gefieder macht sie nicht viel Federlesens. Was die Nachtigall doch für ein schönes und begabtes, noch dazu energiesparendes Geschöpf ist. Die Kleinigkeit von 5000 Kilometern von Afrika aus nach Berlin legt sie in einem Zug dahin – ohne Treibstoff, versteht sich.

Auch Künstler wie der amerikanische Experimentalmusiker David Rothenberg, der schon Musik mit Walen und Insekten, mit Wasser und Wind erfand, hat sich in den faszinierenden Sound gerade der Berliner Nachtigallen verliebt. Also ließ er sich vom Himmel über Berlin durch die Stadt leiten und spürte in seinem Doppelalbum Nightingale Cities (Live performances of humans and birds together; Terra Nova Music) nicht nur den Koloraturen der Pracht-Divos im Park am Gleisdreieck, auf dem Volkspark Hasenheide, im Weddinger Humboldthain oder am Floraplatz im Tiergarten nach, sondern musizierte auf seiner Klarinette einfallsreich und dicht verschlungen mit ihnen. Eine Nachtigall darf im Hörbuch auch solo ihre aufregenden Künste vorführen, nämlich diejenige aus dem Viktoriapark, aufgenommen am 5. Mai 2017.

Ihr Gesang sei so ausgezeichnet eigen, es herrscht darin eine so angenehme Abwechslung und eine so hinreißende Harmonie, wie wir sie in keinem anderen Vogelgesange wiederfinden, weiß die Naturgeschichte der Vögel Deutschlands. Berühmte Komponisten haben sich von der Meistersängerin inspirieren lassen und ihren Gesang in Kompositionen nachempfunden: Ludwig van Beethoven etwa in seiner sechsten Sinfonie, Johann Strauß in der „Nachtigallen-Polka“ und Igor Strawinsky im „Lied der Nachtigall“.

Auf dem hier vorzustellenden kurzweiligen 65 Minuten dauernden Hörbuch lauschen wir nicht nur entzückt dem in Liebesdingen so einfallsreichen und hingebungsvollen dezent hell-bis rötlich braun gefiederten Kavalier, sondern wir erfahren auch jede Menge über Lebensart und Gewohnheiten des schicken Minnesängers. Er ist ein Bodenbrüter, braucht daher dichtes Unterholz und laubiges Gebüsch, um geschützt zu sein. Auf Privatsphäre legt er nämlich großen Wert, ist einmal die Nachkommenschaft da. Dem Berliner Gartenbauamt sei Dank, dass es seine Arbeit nicht allzu akribisch nimmt. Da finden sich in aufgelassenen Gleisanlagen, wahrlich nicht jeden Tag getrimmten Böschungen, kleinen Wäldchen und diversen Parks genügend Lebensraum für die Kinderchen von Herrn und Frau Nachtigall. Manchmal ist ,schlampig‘ halt ein Glück. Und was für die Nachtigall gut ist, kann für den Menschen nicht schlecht sein.

Der Geräuschpegel einer Großstadt wie Berlin macht diesen sangesfreudigen Gesellen nichts aus. Im Gegenteil: Manche von ihnen haben sich seit Jahren stark befahrene Straßen als Heimat erkoren, was ihren Gesang noch zusätzlich anspornt. So ist ein Vogel berühmt dafür, dass er sich allnächtlich auf einer Ampel an der Hauptkreuzung in Alt Treptow niederlässt, direkt neben der S-Bahn-Station und dem Eingang zum Park gelegen, so als habe er sich absichtlich die lauteste Stelle ausgesucht und wolle beweisen, dass sein Gesang durchdringender und ausdauernder ist als der Lärm ringsumher.

Der intensivste Moment jedoch gehört den stillen Pausen, die der englische Dichter H. E. Bates so beschreibt: „Der Gesang der Nachtigall ist mit einer Spannung aufgeladen, deren Schönheit weit über das bloß Liebliche hinausgeht. Ihre Darbietung enthält oft viel mehr Momente der Stille als solche stimmlicher Äußerungen. Diese Momente haben etwas Leidenschaftliches, eine Andeutung von Atemlosigkeit und wie durch Zauberkraft überwundener Hemmung. Sie können seltsamerweise verführerisch und verwirrend sein. Das Lied beginnt oft mit einem leisen Glucksen, einem Zupfen der Saiten, einem gewissen Stimmen der Instrumente und steigert sich plötzlich zu einem Crescendo aus Feuer und Honig, nur um danach mitten in der Phrase wieder abzubrechen. Darauf folgt ein lang andauerndes Warten auf die Wiederaufnahme der Phrase, das atemlose stumme Intervall das so schön ist.“

Eva Mattes erzählt uns diese so poetischen Worte mit sanfter Stimme. Das Hörbuch macht Lust auf mehr, auf die Abwechslung von Gesang und Stille, Lebensfreude und Kontemplation, ausgelassener Leidenschaft und improvisierter Kunstfertigkeit. Manchmal wünschte man sich ein bisschen weniger Text und mehr Gezwitscher. Aber was rede ich, dieser kleine Nachtigallen Aufsatz ist ja auch schon viel zu lang. Lasst uns lauschen, dem glücklichen Vogelsang und der Stille.

So lange wie die Nachtigall singt, ist Berlin schön.

Tipp:
Zum Thema gibt es auch ein empfehlenswertes Buch von David Rothenberg „Berlins perfekter Sound“, Originaltitel: Nightingales in Berlin. Searching For the Perfect Sound, erschienen im Rowohlt Verlag im April 2020, 254 Seiten.
Im Buch blättern

„Stadt der Nachtigallen – Berlins perfekter Sound“
Ein Feature von Vera Teichmann nach dem Buch von David Rothenberg
mit den Stimmen von Eva Mattes und Julian Mehne
Argon Hörbuch, April 2020
Hörbuch
Bei Thalia kaufen und für den Tolino

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