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Nicht ohne Hoffnung: „Ein anderes Leben als dieses“ von Virginia Reeves

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Virginia Reeves schreibt ein eindrucksvolles Drama aus dem Süden der USA. Rezension von Barbara Hoppe.

Alabama, Anfang der 1920er Jahre. Roscoe T. Martin, mit Leib und Seele Elektriker, und seine Frau Marie, eine Lehrerin, ziehen auf die Farm von Maries verstorbenen Eltern. Beide sind für die Landwirtschaft nicht geeignet, und dennoch weigert sich Marie, die Farm aufzugeben. Während Roscoe die Arbeit liegen lässt, versucht seine Frau, den Betrieb aufrecht zu erhalten. Unterstützt wird sie von dem schwarzen Arbeiter Wilson, der mit seiner Familie auf dem Grundstück ein kleines Haus bewohnt.

Als die staatlichen Elektrizitätswerke beginnen, überall Stromleitungen zu legen, sieht Roscoe eine Chance, die Farm zu retten. Die Häuser der Farmbesitzer sind zwar noch nicht ans Stromnetz angeschlossen, aber Roscoe entscheidet, illegal Strom abzuzweigen, um den wirtschaftlichen Aufschwung der Farm zu forcieren. Mit der Elektrizität kommt der Wohlstand ins Haus und das Glück in die Ehe des sich entfremdeten Paares. Bis zu dem Tag, an dem ein Mitarbeiter der Elektrizitätswerke die Leitungen inspiziert und an Roscoes illegal errichteten Stromleitungen einen tödlichen Schlag erleidet. Roscoe erhält 20 Jahre Haft wegen Diebstahls und Totschlags, Wilson wird vom Staat in die Kohleminen verkauft.

Virginia Reeves Debütroman führt weit hinein ins ländliche Amerika, wo die Skepsis vor dem Strom so groß ist, dass man Petroleumlampen als die sicherere Beleuchtungsmethode vorzieht. Sie erzählt von Hoffnungen und Pionieren, von Liebe und Enttäuschungen, von Segregation und dem Aufbruch in eine neue Zeit. Denn das Gefängnis, in das Roscoe kommt, gehört zu den moderneren Einrichtungen, die auf Resozialisation setzen und den Häftlingen Möglichkeiten bieten, einer Arbeit innerhalb der Gefängnismauern nachzugehen. Geschickt verbindet Reeves die Handlungsstränge zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Gefängnis, aus dem uns Roscoe berichtet. Dabei entfaltet sie ein differenziertes Bild der Menschen: Der aufgeklärte Menschenfreund  trifft auf den Sadisten, der brutale Gangster auf den Verzweiflungstäter.

Und immer wieder ist da Marie, die ferne Ehefrau, die Liebe, die auf Roscoe wartet, obwohl sie sich nicht für ihn eingesetzt hat, ihn nie besucht und keinen seiner Briefe beantwortet. Sie ist der Strohhalm, an den sich der Häftling klammert und der Anker auf der Farm, zu der er zurückkehren möchte. Doch als es soweit ist, schlägt die Wirklichkeit Roscoe brutal ins Gesicht: Eine verhärmte Marie und Sohn Gerald haben die Farm verlassen, die neuen Besitzer sind Wilson, der versehrt aus den Kohleminen entlassen wurde, und seine Familie. Die Verhältnisse haben sich verkehrt. Die Last der Schuld liegt auf den Schultern des weißen Mannes und seiner fernen Frau. Die Frage „Was wäre gewesen, wenn…“ steht unausgesprochen im Raum und belastet die Beziehungen. Sensibel nähert sich Virginia Reeves den Gefühlen ihrer Protagonisten und die Anstrengung einer (Wieder)Annäherung. Irgendwann fragt man sich, was eigentlich am schwierigsten ist: Zu verzeihen, nicht zu verzeihen, Schuld zu tragen oder zu versuchen, Schuld von sich nehmen, sich zu ent-schulden und um Verzeihung zu bitten.

„Ein anderes Leben als dieses“ ist ein  großartiges Buch, in dem die Hoffnung nicht stirbt und die Menschlichkeit einen Platz hat. Ein zartes Pflänzchen erblüht in diesem rauen, harten und streckenweise gefühlskalten und doch hoffnungsvollen Gefängnis- und Familiendrama. Ein Pflänzchen, das Farbe in eine Trostlosigkeit bringt, die sich aufmacht, überwunden zu werden. Bis heute eine Aufgabe, die noch nicht abgeschlossen ist.

Virginia Reeves
Ein anderes Leben als dieses
DuMont Buchverlag, Köln 2018
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Coverabbildung © DuMont Buchverlag

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