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Usedomer Musikfestival 2022: Nahrung für Sinne, Geist und Seele

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Von Stefan Pieper.

„Wir wollen ein Mosaik zeigen und eine Geschichte nachzeichnen“ sagt Intendant Thomas Hummel, befragt nach der übergreifenden Intention des Usedomer Musikfestivals. Mosaik heißt, dass die vielen Programmpunkte an immer anderen Plätzen eine ganze Region zum Klingen bringen. Der diesjährige Besuch beim zweiwöchigen Veranstaltungsmarathon erfolgte „mittendrin“ – also dort, wo sorgsam kuratierte Exklusiv-Ereignisse nicht unbedingt die Massen locken, aber doch viel mehr als nur eine kulturelle „Nische“ repräsentieren. Estland war das diesjährige Partnerland. Neben einem großen Aufgebot an estnischen Musikerinnen und Musikern und einer immensen Fülle an Kompositionen wurde auch der  musikhistorischen Essenz in diesem Land zu Leibe gerückt. 

Musikalische Geschichtswerkstatt

Ein Abend im funktionalen Konferenzsaal des Steigenberger Hotels im zentralen Festivalort Heringsdorf wurde zur musikalischen Geschichtswerkstatt. Jan Brachmann, Journalist, Musikwissenschaftler und künstlerischer Intendant des Festivals initiierte ein Podiumsgespräch über eine tragische Episode aus dem Leben Ludwigs van Beethoven und dies mit unmittelbarem Estland-Bezug: Aus Ludwig van Beethovens geheim gehaltener Liebe zur ungarischen Gräfin Josephine van Brunswick könnte – worauf heute diverse Briefwechsel hindeuten – eine Tochter mit dem Namen Minona hervorgegangen sein. Die Verbindung mit Beethoven sollte aufgrund damaliger Stände-Unterschiede „illegitim“ bleiben. Offiziell galt Minona als Tochter des baltendeutschen Barons Christoph von Stackelberg, der ins heutige Tallinn übersiedelte. Die Lebensgeschichte des jungen Mädchens muss traurig verlaufen sein. Noch mehr widerspiegelt sich in dieser Episode der tragische Unterton im Lebensschicksal Beethovens. Er selbst antwortete mit großer Musik darauf. Ein junges estnisches Duo, bestehend aus Hans Christian Avik, Violine, und Karolina Avik, Klavier, musizierten drei der Violinsonaten, welche diese Tragik widerspiegeln. Das Schicksal der Tochter Minona hat der estnische Komponist Jüri Reinvere für seine gleichnamige Oper aufgegriffen, die im Jahr 2020 uraufgeführt wurde. Mirjam Mesak, Sopran, und Ewa Danilewska brachten daraus zwei eindringliche Monologe zum Klingen.

Es darf in herrliche Landschaft und Natur eingetaucht werden

Das Festival „erschlägt“ nicht mit einem Überangebot, sondern bietet viel „Luft“ zwischen den Konzerten an vielen Spielstätten überall auf der weitläufigen Insel Usedom. Umso mehr Muße gibt es, in die herrliche Landschaft und Natur einzutauchen. Genau das braucht eine erfüllte Festivalreise. Jenseits der trubeligen Küstenbadeorte umgibt einen auf Usedom eine meditative Stille und Weite wie kaum sonst wo in Deutschland. Verträumte Orte offenbaren mit ihren alten Kirchen echte Schmuckstücke. Zum Beispiel im Städtchen Benz, in dessen Kirche das Duo aus Mirjam Mesak und Ewa Danilewska das Konzertmotto „Herbst-Sonnenlieder“ wörtlich nahm. Dunkle Dramatik türmt sich in vielgestaltigen Liedern von Rachmaninoff auf. Nach der Pause öffnen die beiden ein kompositorisches Schatzkästlein aus estnischer Provenienz: Eigenwillig- lyrisch, aber auch voll funkelnder Klangimpressionen kommen Lieder von Ester Mägi daher. Noch eindringlichere Seelenzustände widerspiegeln die Lieder von Eduard Tubin – und ja: Gerade hier setzte der tiefschürfende Gesang von Mirjam Mesak ein Statement für ihr Heimatland, das aus tiefstem Herzen kam.

Schöpfer-Genius unter feindlichen Zeitumständen

Hoch ragt der stolze Turm der Sankt-Marien-Kirche über die kleinen Häuser des verträumten Ortes Usedom. Hier ging es wieder ans musikologisch Eingemachte. Wer kennt heute Johann Valentin Meder? Er war im ausgehenden 17. Jahrhundert einer der innovativsten Musik-Erneuerer. Die estnische Musikologin Anu Schaper forscht gerade über diesen produktiven Genius und lieferte in ihrem Vortrag Belege zuhauf dafür. Von Thüringen aus verschlug es Meder ins estnische Tallinn. Später ins lettische Riga, wo er es zu höchstem Ansehen brachte. Spannend – und ja – irgendwie auch beklemmend aktuell klingen Anu Schapers historische Einordnungen in Zeitumstände, die Ende des 17. Jahrhunderts von Krieg und Pestepidemie gezeichnet waren. Tief berührend und vollendet ist die Art, wie das Goldberg-Ensemble mit Meders geistlichen Werken den Kirchenraum zu etwas Größerem, Höherem und Ewigen machte. Denn das personell schlanke Vokal- und Instrumentalensemble unter Leitung von Andrzej Szadejko fokussiert sich in traumhafter Klangbalance auf das große Ganze in dieser zeitlos-erhabenen Tonarchitektur. Dieses Ensemble beherrscht die hohe Kunst eines wirklich musikantischen Musizierens. Wo hatte dieser norddeutsche Musiker so viele italienische Einflüsse her? Ein Wunder für sich ist dieses lichtdurchflutete, innig-warme Melos, welches die sakrale Strenge von Meders Psalmvertonungen anmutig konterkarierte.

Die Reise, welche diese fünf Tage zu einem gefühlt viel längeren Aufenthalt gemacht hat, passiert weitere, immer aufs neue einladende Stationen: Ein verspielt-verwilderter Garten liefert Ein- und Durchblicke auf zahlreiche, anmutige Skulpturen. Das Wohnhaus von Otto Niemeyer bei der Siedlung Lüttenort unweit des Badeortes Koserow ist heute eine Galerie mit den Arbeiten des freigeistigen Künstlers. Dieser segelte in den 1930er Jahren von Berlin nach Usedom und lebte hier bis zu seinem Tod. Heute ist das Anwesen auch zu einem attraktiven Kulturort ertüchtigt worden – und wurde zum denkbar besten Schauplatz für eine Matinee der feinen Töne: Kristi Mühling zeigte ihre hohe, mehrstimmige Spielkunst auf der Kannel, der estnischen Kastenzither, einem sehr feinsinnigen, wie auch durch seine Möglichkeiten für Mehrstimmigkeit erstaunlich potentem Instrument. Bachs Musik wurde hier zum nährenden Strom für so vieles mehr, was die reiche Überlieferungskultur von Mühlings Heimatland hervorbringt.

„Die heile Wirklichkeit ist bedroht“

Der Kaiserbädersaal im monumentalen Luxushotel Kaiserhof in Heringsdorf durfte wohl die mondänste Spielstätte bei diesem Festival sein. Bis zum letzten Platz gefüllt war dieser, als

Schauspielerin Martina Gedeck ihre Stimme einem der bedeutendsten Stücke Literatur aus Estland gab: Viivi Luiks Roman „Der siebte Friedensfrühling“ erzählt das alltägliche Leben in Estland unter der sowjetischen Herrschaft und nimmt die unmittelbare Wirklichkeit so plastisch und farbenreich unter die Lupe, wie es nur unverstellten Kinderaugen gelingen mag. Hautnah zieht Vivvi Luiks  bildhafte Sprache in ein Landleben hinein, in dem die Natur und die Jahreszeiten übermächtig sind – in denen aber die heile Wirklichkeit auch bedroht scheint durch die Regulierungswut der sowjetischen Machthaber. Luiks Roman bietet ergreifende Bilder, die eben nur durch die kindliche Wahrnehmungsperspektive möglich sind und der kraftvollen Stimme von Martina Gedeck kann sich im Kaiserbädersaal niemand entziehen. Was hier aber auch dem Potenzial ihrer Partnerin geschuldet war: Pianistin Hideyo Harada kommentierte und beantwortete die Textpassagen dieses Schlüsselromans mit treffsicher ausgewählten Kompositionen aus Estland. Etwa vom einflussreichen, aus der Spätromantik schöpfenden Heino Eller, von seiner Schülerin Ester Mägi, von Jüri Reinvere. Und Lepo Sumeras minimalistisch-kristallines Stück „Vom Jahr 1981“ funkelte wie eine vom Wind bewegte Wasserfläche.

Streichquartettkunst auf höchstem Niveau

Im letzten Jahr war das dänische Nordic-String-Quartett mit einer überwältigenden Schubert-Interpretation auf Usedom zu erleben. Die aktuelle Festivalausgabe bot die Neuauflage eines solchen Höhenfluges. Auf einem Hügel, von dem der Blick auf die glitzernde Wasserfläche der Ostsee reicht, erhebt sich die Evangelische Kirche des Ortes. Diese wurde zur perfekten Klangumgebung für das hochmotivierte, in Bremen ansässige Signum-Streichquartett. Zunächst demonstrieren die hochmotivierten Spielerinnen und Spieler die Diversität estnischer Kompositionsstile in der Neuzeit. Gedeckte Farbtöne und herbe Atmosphären bringen den beginnenden Herbst in Ester Magies Vesper zum Klingen. Die Welt ist im Aufruhr in Heino Ellers hitzigem Streichquartett mit seinen Konfrontationen und harschen Impulsen – auch diesem Werk stand die gut geerdete Klang-Kultur des Signum Quartettes vortrefflich. Zum großen, imaginären Theater wurde schließlich Franz Schuberts Streichquartett G-Dur D 887. Denn hier windet sich ein Lebensfaden durch zahllose Stationen, öffnen sich emotionale Fenster, spalten sich Exkurse in weite Fantasieregionen und Traumwelten ab. Aber nur dann, wenn man diese kolossale Welt spielerisch-instrumental, sowie geistig und emotional zu bewältigen weiß. Und genau das können Florian Donderer, Violine, Anette Walther, Violine, Xandi van Dijk, Viola und Thomas Schmitz, Violoncello – eben weil sie ihre „Rollen“ von Grund auf verstehen.

„Wir sollen das Verbindende zeigen! Gerade in schwierigen Zeiten, in den wir gerade stehen“ benannte Thomas Hummel das Anliegen dieser vielgestaltigen Musikerlebnisse beim Usedomer Musikfestival. Nahrung für Sinne, Geist und Seele gab es dabei auf jeden Fall genug.

Das nächste Usedomer Musikfestival findet vom 23. September bis 7. Oktober 2023 statt.

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