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Mikis Theodorakis: Ich bin ein Kind der Agora

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Mikis Theodoroakis
Fotonachweis: Schott Music / Haris Bilios

Am 2. September 2021 verstarb der griechische Musiker und Komponist Mikis Theodorakis im Alter von 96 Jahren in Athen. Der konservative Premierminister ruft daraufhin eine dreitägige Staatstrauer aus und auch die kommunistische und andere linke Parteien würdigen ihn als einen der ihren. In einem Nachruf erinnert Farah Lenser an den großen griechischen Demokraten, Europäer und Weltbürger.

Mikis Theodorakis selbst hätte noch seine Identität als Kreter betont, denn Kreta ist die Heimat seiner Vorfahren väterlicherseits: Dort spielt der Film »Zorbas« von Michael Cacoyannis, für den Theodorakis die Filmmusik geschrieben hat. Die Erinnerung daran ruft wohl bei den meisten das Bild des tanzenden Anthony Quinn hervor, der als Alexis Zorbas am Strand von Kreta den »Sirtaki« tanzt. TARAM, TARAM, TARAM.

Für Mikis Theodorakis war Zorbas nicht nur eine den Film inspirierende literarische Erfindung von Kazantzakis, sondern eine lebendige Gestalt, die Verkörperung des freiheitsliebenden kretischen Menschen, der dem Leben mit all seinen Tragödien trotzt und ihm mit einem Freiheitsanspruch entgegentritt, um es wie Dionysos mit Lied, Tanz und Liebe und auch Wein zu feiern. »Das Leben um des Lebens willen. Das ist die einzige Wahrheit.« So die Erkenntnis seiner späten Jahre.

Theodorakis hat es bedauert, dass er in Deutschland hauptsächlich wegen dieser Filmmusik bekannt wurde. Wer das gesamte Kaleidoskop dieses genialen Komponisten und radikalen Demokraten erfassen möchte, der möge sich den wunderbaren Bildband über Mikis Theodorakis aus dem Schott Verlag anschauen. Nicht nur die wunderbaren Fotos aus dem Leben Theodorakis, sondern auch seine Selbstzeugnisse und die Interviews, die der Herausgeber Asteris Kutulas mit dem großen Künstler führte, und nicht zuletzt die beiden CDs mit seiner Musik und einer DVD des Konzerts Canto General (nach den Texten von Pablo Neruda) in Chile 1993 geben uns einen Einblick in das Leben des genialen Komponisten und Widerstandskämpfers Mikis Theodorakis.

Geboren wird er 1925 auf der Insel Chios – gleich gegenüber dem türkischen Festland, wo sich die ehemaligen Landgüter der Familie seiner Mutter befanden –, die diese 1923 bei der Gründung des modernen türkischen Staates verlassen musste. Seine Kindheit verbringt er auf Lesbos, und er wird tief geprägt von der unglaublichen Schönheit der griechischen Inseln, dem blauem Meer, der Berge und Landschaften. Seine Eltern sind jung und machen oft Ausflüge mit den gleichaltrigen Onkeln und Tanten und schlafen draußen unter freiem Himmel. Beim Anblick des Sternenmeers begreift der junge Mikis etwas von der Harmonie des Universums: »Von den Galaxien und den Sternen bis hin zur kleinsten Lebensform, dem Atom, gehorcht alles den Gesetzen der kosmischen Harmonie. Pythagoras offenbarte uns vor tausenden von Jahren, dass die Essenz des Universums die Musik ist, die sich durch Klänge äußert. Die Musik ist somit auch die Quintessenz des menschlichen Lebens.«

Lieder singen die Menschen in der griechischen Provinz mit Leidenschaft – bei den Feiern im Familienkreis wird musiziert und getanzt. Da sein Vater Beamter ist, folgt ihm die Familie zu seinen jeweiligen beruflichen Standorten, auch in größere Städte, wo Mikis mit acht Jahren zum ersten Mal ein philharmonisches Orchester hört und einen Dirigenten sieht. Verwundert fragt er seine Mutter: »Was macht der Mann da?« Und seine Mutter antwortet ihm mit dem unglaublichen Satz: »Er leidet.« Da begreift Mikis, dass Kunst und Musik Schmerz bedeuten.

Schmerzliche Erfahrungen bringen ihm zunächst die weltpolitischen Ereignisse. Schon mit sechzehn Jahren schließt er sich dem antifaschistischen Widerstand gegen die italienische und bald darauf gegen die deutsche Besatzung seines Landes an. Im Gefängnis von Tripolis begreift er, »dass der Mensch gutherzig wird, sobald er ein Verfolgter ist, und das war die schrecklichste Erkenntnis meines Lebens. Also fragte ich mich, muss man ein Verfolgter sein, um Mensch werden zu können? Und derselbe Mensch wurde, wenn er aus dem Gefängnis wieder rauskam, zum Machtmenschen – wenn nicht noch schlimmer. Das führte dazu, dass ich vollkommen am Menschen verzweifelte; ich sah, dass mir nur eins bleibt: Musik schreiben. Mittelpunkt meines Lebens ist seitdem die Musik. Damals bin ich zum Musiker geworden.«

Die Stationen seines Lebens werden von wiederholter Flucht und Exil in Paris gezeichnet: Auf die italienische und deutsche Besatzung folgt der Bürgerkrieg, in dem er aktiv die Partei der linken Demokraten ergreift. Zuerst wird er mit politischen Genossen auf die Insel Ikaria verbannt, später muss er auf der Folterinsel Makronisos die schlimmsten Leiden mit ansehen und selbst erdulden. „Ich spuckte Blut, Lungenentzündung, Tuberkulose. Keiner von uns wusste, ob er den nächsten Tag überlebt. Wie es mich in dieser Zeit, als ich im Zelt saß, plötzlich überkommen konnte, und ich zu komponieren begann – das ist mir selbst ein Rätsel.«

Später wird er diese Kompositionsskizzen zu großen Sinfonien umgestalten, die ihm manchmal auch im Traum erscheinen: „ …  1950, gleich nach der Verbannung auf Makronisos, … hörte ich eines Nachts im Schlaf ein sinfonisches Werk für Klavier und Orchester, in allen Einzelheiten. … Die Musik klang neuartig. … Plötzlich wurde mir klar, dass das mein eigenes Werk war, dass da gespielt wurde. Eine unglaublich euphorische Stimmung erfasste mich, und ich muss im Traum gejauchzt haben.«

Im Exil in Paris studiert er moderne Musik in der Meisterklasse von Messiaen und genießt die Freiheit ohne politische Verfolgung. Gemeinsam mit seiner Frau Myrto stellt er sich an den Rand des Bois de Bologne und die beiden schreien aus vollem Halse »De-mo-kra-tie! Frei-heit! Irre laut. Die Passanten dachten, wir seien durchgeknallt. Schon allein dieses Gefühl: sagen zu können, dass wir frei sind – das war unfassbar. Wirklich frei zu sein!«

Freiheit ist und bleibt für ihn das leitende Motiv: Sich auf die Tradition der griechischen Agora berufend vertritt er die Position einer radikalen und direkten Demokratie. Als er in den 60er Jahren nach Athen zurückkehrt, ziehen ihn die gesellschaftspolitischen Ereignisse wieder in ihren Bann. Immer noch sind viele politische Häftlinge interniert und deren Frauen überreichen ihm das poetische Werk »Griechentum« des Dichters Jannis Ritsos, den sie ebenfalls um Unterstützung gebeten hatten. So entsteht der gleichnamige Liederzyklus und das Neue Griechische Lied ist geboren, eine melodische Kunstform, die er mit anderen griechischen Künstlern weiterentwickelt. Theodorakis will den »Dialog« zwischen der Musik und dem griechischen Volk ermöglichen und komponiert das Oratorium Axion Esti, ein Werk für Sinfonieorchester und Chor, das Texte des späteren Literaturnobelpreisträgers Odysseas Elytis vertont und in Griechenland eine Art Renaissance für Liederzyklen auslöst.

Nach der Ermordung des griechischen Parlamentsabgeordneten Grigoris Lambrakis werden diese patriotischen und die Freiheit verherrlichenden Lieder überall in Griechenland gesungen. Theodorakis wird nicht nur Abgeordneter der Vereinigten Linken EDA, sondern auch Vorsitzender der Lambrakis Jugendbewegung, die in jedem Dorf ein Kulturzentrum eröffnet. Für ihn ist es wichtig in dieser Bewegung die Tugenden einer echten Demokratie zu praktizieren, die oft im Gegensatz zu den despotischen Machtstrukturen in den verschiedenen Parteien, auch der kommunistisch und links orientierten, stehen. In den Zirkeln der Lambrakis Jugendbewegung entsteht auch die Diskussion über die Rolle der Kunst in der Gesellschaft, die Theodorakis in den 70er Jahren sogar mit Joseph Beuys zusammenbringt, der den künstlerisch politischen Ansatz von Theodorakis im Sinne seiner Theorie der Sozialen Plastik versteht.

Die kulturelle Revolution endet 1967 mit dem Putsch der Militärjunta, die ihn wieder ins Gefängnis, in die Verbannung und erneut ins Exil bringt. Doch er hat seine Lebensaufgabe gefunden und angenommen und wird zeitlebens und auch auf internationaler Bühne immer wieder mit der Kraft seines Genius und seiner überragenden Kunst die Stimme gegen die Ungeheuerlichkeiten gesellschaftlicher Auswüchse erheben.

Anlässlich eines Konzerts in Hamburg 2010 formuliert er die Wirkung und auch Verpflichtung seiner künstlerischen Ausdrucksform in einer Videobotschaft mit folgenden Worten: » … möchte ich betonen, dass in diesem Tempel der Musik ein Werk entsteht, dass die Grenzen des einfachen ästhetischen Genusses überschreitet. Ein gesellschaftlicher nützlicher Beitrag, der uns hilft, aktiv teilzunehmen am Kampf des Guten gegen das Böse. So dass die Gesellschaft und die Nation, in der wir leben, immer größeren Nutzen ziehen kann aus dem Gesetz der Harmonie, der Schönheit und der Musik – aus dem Gesetz also, das den Menschen erst zum Menschen macht, im wahrsten und prachtvollsten Sinne des Wortes.«

Mikis Theodorakis, deine kraftvolle Stimme lebt und bleibt uns auf ewig erhalten!

*Zitate aus:
Mikis Theodorakis – Ein Leben in Bildern; Hrg: Asteris Kutalas, Schott Verlag 2010
Begleitheft zum Konzert »Ein Leben für die Freiheit« in Hamburg 2010 und Berlin 2019 mit den Künstlern Gerhard Folkerts, Julia Schilinski und Rolf Becker

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