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Menschen im Museum: „Sehen und gesehen werden“

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Kolumne von Susanne Falk.

YouTube ist ein Segen. Und ja, ich weiß, dass das viele Menschen anders sehen. Mir hat es erst kürzlich den Arsch gerettet, indem ich mir dort Gleichungsrechnungen für Fünftklässler erklären ließ, die ich im Anschluss wiederum meinem Sohn erklären konnte. Meine eigene Schulzeit lag einfach schon viel zu lange zurück und so richtig begriffen hab ich schon damals nicht, was es mit x und y auf sich hatte. Nun wusste ich es endlich. Man könnte also sagen: YouTube, das ist Nachhilfeunterricht für Arme. Oder für begriffsstutzige Eltern mit Rechenschwäche.

Natürlich kann man den Videokanal auch dazu nutzen, sich mehr oder minder lustige Tiervideos anzusehen, amerikanische Late-Night-Talkshows oder die Abschiedsrede von Obama, falls man sich einmal kurz daran erinnern möchte, wie ein echter amerikanischer Präsident redet und regiert. Der Mann in Orange, der gerade das Weiße Haus okkupiert hat, gibt da außer diversen (Sex-)Skandalen wenig her. Apropos Sex: Dafür existiert natürlich ein eigener Videokanal. (Die haben aber auch noch nicht das Pipi-Tape gefunden…)

Das Absurdeste, was Youtube jedoch zu bieten hat, sind Videos von Menschen die Videos gucken. Absurd deshalb, weil sich hier die Katze quasi in den Schwanz beißt – womit wir wieder bei den lustigen Tierfilmchen wären. Und dennoch – es entbehrt nicht eines gewissen Reizes, sich die Gesichter der Leute anzusehen, die wiederum einen Krimi oder einen spannenden Trailer anschauen und anhand ihrer Reaktion, die wir ja ganz unmittelbar mitbekommen, zu entscheiden, ob der nächste Superheldenfilm tatsächlich spannend ist oder ob alle nur so tun als ob. Denn die abgefilmten Gesichter sind in der Regel echt und ihre Reaktionen sind es meist auch.

Ich gebe es zu, wir machen das auch gerne mit unseren eigenen Kindern. Wir schieben eine beliebige DVD in den Player und beobachten in der Folge verzückt die Gesichter unserer Kleinen, wenn sie vor Spannung mitfiebern oder sich vor Lachen nicht mehr einkriegen. Da wechseln die Gesichtsausdrücke manchmal im Sekundentakt.

Um so erstaunlicher, wenn Sie dasselbe einmal in einem Museum versuchen, Ihren Blick von den Exponaten abwenden und stattdessen die Gesichter derjenigen betrachten, die wiederum aufmerksam die Kunstwerke studieren, nur um dann feststellen zu müssen: Da regt sich nichts. Absolut gar nichts. Ich wage es zu behaupten, 90 Prozent aller Museumsbesucher haben den gleichen Gesichtsausdruck, wenn Sie die Kunstwerke betrachten und der auf mich so wirkt, als hätten sie einst in der Schule ein Fach mit dem Gegenstand „Zurückhaltend interessiert Gucken in der Öffentlichkeit“ belegt. Was auch immer die Kunst in diesen Menschen auslöst (und ich hoffe, dass sie wenigstens irgendetwas in ihnen auslöst), sie zeigen keinerlei Anzeichen dafür.

Fühlen die sich alle beobachtet und wollen sich nicht daneben benehmen, weil man das in einem Museum nun einmal nicht tut? Tun die nur so, als ob es sie kalt lässt und in Wahrheit treibt sie jeder Chagall innerlich zur Raserei? Lösen die Bilder schlichtweg keine Reaktionen bei den Menschen aus, weil sie sich nicht bewegen? Wir reagieren ja als empathische Wesen auf nahezu jedes lächelnde Gesicht, gleich ob es uns in der Realität oder im Fernsehen begegnet. Ich hab mich schon dabei ertappt, ganz, ganz üble Gestalten anzustrahlen, nur weil sie ihr doofes Grinsen in eine Fernsehkamera hielten, darunter den Mann in Orange. Das war mir hinterher äußerst unangenehm…

Was es auch immer sein mag – ich kann mir keinen Reim darauf machen. Und im Reimen bin ich nicht einmal so schlecht, jedenfalls besser als bei Gleichungsrechnungen. Apropos: Sie hätten mein Gesicht sehen sollen, als endlich der Groschen fiel! Aber das konnten Sie natürlich nicht, weil ich mich nicht dabei gefilmt und das Video auf YouTube gestellt habe. Oder sonst wo ins Netz. Muss ja nicht jeder immer alles sehen.

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