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Menschen im Museum: „Die im Speicher sieht man nicht“

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Kolumne von Susanne Falk.

Ein Museum ist weit mehr, als die Summe seiner Objekte. Es ist auch mehr, als das bedeutendste Ausstellungsstück oder die jährliche Auslastung in Besucherzahlen. Es ist mehr als das was wir sehen. Und einiges bekommen normale Besucher nie zu Gesicht, denn nahezu jedes Museum besitzt so etwas wie ein Depot, nicht wenige auch eine Bibliothek oder ein Archiv, in denen die Sammlungsgeschichte des Hauses dokumentiert wird. Diejenigen die dort arbeiten, tun dies von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, fast im Verborgenen.

Archivare und Bibliothekare sind im Allgemeinen nicht unbedingt die geselligsten Menschen, das bringt der Beruf so mit sich. Wenn man sich mit alten Sachen umgibt ist nicht viel Platz für Neues, Lebendiges da. Was ja nicht heißt, dass man sich über Besucher nicht freuen würde, schließlich will man seine Kostbarkeiten ja auch einmal jemandem zeigen, der sie zu schätzen weiß. Und genau hier treffen Nerd und Freak gerne aufeinander.

Ich hatte vor einigen Jahren das Vergnügen, das ehemalige Post- und Telegraphenmuseum Österreichs, heute ein Bestandteil des Technischen Museums Wien, zu sortieren. Es gibt wenige Jobs, in denen man dem Skurrilen so offen und ungeniert begegnen kann wie bei der Arbeit in einem Archiv. Sie öffnen eine Box unbekannten Inhalts und plötzlich fällt Ihnen ein Stapel alter Sachen entgegen. Und mit alt meine ich wirklich, wirklich alt, so zwischen 300 und 400 Jahre alt.

Nun liegt die Neugier in der Natur des Menschen und Archivare bilden da keine Ausnahme. Wer will denn nicht wissen, was zum Beispiel in einem alten Brief steht? Gut, es sei denn, die Handschrift ist so fies, dass man das ganze nur Buchstabe für Buchstabe entziffern kann, mühsam und mit viel Geduld, bloß um dann festzustellen, dass der Brief auf Ungarisch abgefasst wurde. Ich spreche kein Ungarisch. Blöd gelaufen.

Aber dann steht man plötzlich vor einem neuen Rätsel, denn in meinen behandschuhten Händen halte ich auf einmal ein ungeöffnetes Kuvert. Schlappe 400 Jahre alt und kein Mensch hat das je geöffnet. Ja, gibt’s denn so was? Wer ist denn in den letzten 400 Jahren nicht auf die Idee gekommen, das Teil zu öffnen? Und wieso hat es seinen Adressaten nie erreicht? Voller Fragen und durchflutet von brennender Neugierde stapfe ich zu Kollege M. Kollege M ist Postexperte, sieht das von mir stolz präsentierte Objekt an und sagt nur, völlig unaufgeregt: „Ah ja, das kommt wegen des Papiersiegels.“ Stellte sich doch heraus, dass das Papiersiegel (ja, so etwas gibt es) wertvoller war als der Inhalt des Briefes. Demzufolge wurde er nie geöffnet. Musste man auch nicht, denn wie wir herausfanden, war das ganze nur eine Art historische Sicherheitskopie eines tatsächlich versandten Briefes an irgendeinen Herrscher, den man mit Steuerfragen belästigte.

Was mich so fassungslos machte, war die vollkommene Gelassenheit meines überaus geschätzten Kollegen, mit der er dieses anfängliche Mirakel des verschlossenen Kuverts nicht nur hinnahm sondern mir, dem Neuling, geduldig erklärte: „Unbeschädigte Stempel sind meistens mehr wert als der Inhalt eines Briefes. Dasselbe gilt für die Poststempel. Auch häufig wertvoller als die Briefmarke.“

Und so kommen wir von den Nerds (Archivare) auf die echten Freaks (Stempelsammler) der Posthistorie zu sprechen. Wer also in Zukunft bei Postmuseen an Briefmarken denkt, dem rufe ich zu: Weit gefehlt, Freund! Die wahren Sammler sind nicht die schnöden Philatelisten, nein, es sind die schrägen Typen, die weite Reisen auf sich nehmen, nur um in einem Wiener Archiv in Ekstase zu geraten, wenn sie einen außergewöhnlichen Poststempel zu sehen kriegen!

Apropos Ekstase: Es gibt einen Ort, an den garantiert nie ein Museumsbesucher vordringen wird und das ist der Tiefspeicher des Archivs. Der ist klimatisiert, weil altes Papier konstante Temperaturen und genügend Luftfeuchtigkeit braucht, um sich zu erhalten. Was bedeutet, es ist der beste Ort der Welt, denn wenn alle anderen Menschen im Sommer in ihren Büros wie verrückt schwitzen, geht die Archivarin einfach in den Keller und genießt ihr Leben bei konstanten 19 Grad Celsius, während sie uralte Briefe sortiert, die nie einer gelesen hat und dabei glücklich vor sich hinsummt: Super Freak von Rick James. Die 1980er sterben nämlich auch nie aus! Und immerhin sind wir in einem Archiv, also: U Can’t Touch This! Und ja, das ist MC Hammer, nicht das Original aber auch alt.

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