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Mein Feind, der Klon

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Marie Darrieussecq schreibt eine beklemmende Dystopie. Rezension von Barbara Hoppe.

Es ist eine düstere Welt, die Marie Darrieussecq in ihrem neuen Roman „Unser Leben in den Wäldern“ heraufbeschwört. Eine Dystopie, in der nur in der Offline-Welt die Wälder rauschen. Ein Ort, zu dem sich die Rebellen geflüchtet haben. Diejenigen, die der  totalitären Überwachung durch implantierte Technik entkommen wollen und dies wiederum nur schaffen, indem sie sich so genannte Stealth-Wear-Decken überwerfen, die sie vor den Drohnen schützen sollen, bis die unterirdischen Behausungen fertig sind. Wo es wieder dunkel sein wird.

Die ehemalige Psychotherapeutin Viviane schreibt mit Bleistift auf Papier, wie es dazu kam, dass sie in den Wäldern lebt, ohne den Komfort einer Wohnung mit Heizung und fließendem Wasser, aber meist ohne Fenster und umgeben von Robotern, die von normalen Menschen nicht zu unterscheiden sind. „Wir benutzen möglichst viele Metaphern, um uns trotz Roboter unterhalten zu können. Die Roboter nehmen das wortwörtlich, und das stört ihren Datenabgleich“.

Feuilletonscout: Marie Darrieussecq "Unser Leben in den Wäldern"

Es war der Klicker, der ihr die Augen öffnete. Oder besser das eine, das ihr nach einer Operation blieb. Der Klicker, dessen Job es ist, künstlicher Intelligenz menschliche Assoziationen beizubringen, damit diese menschlicher wird. Der diese Tätigkeit nicht mehr erträgt. Der ahnt, dass die Menschen manipuliert und gefügig gemacht werden und deswegen nur sein eigenes Wasser trinkt. Der eines Tages verschwindet und Viviane verstört und zunehmend alarmiert zurücklässt. Denn die missglückte Augenoperation ist nicht normal, hätte nicht schief gehen dürfen. Schließlich hat jeder Mensch einen Klon, seine „Hälfte“, die ihm als Ersatzteillager dient. Oder, wenn er weniger wohlhabend ist, und das sind die meisten, zumindest einen Krug mit den wichtigsten Organen. Und dennoch ist Vivianes Auge immer noch nicht transplantiert, während Marie, ihr Klon im Erholungszentrum liegt, wo er an Schläuchen in einem nicht endenden Schlaf aufbewahrt wird und immer noch beide Augen hat.

Abgehackt, gehetzt schreibt Viviane nieder, wie sie verzweifelt versucht, Marie zu einer Schwester zu machen, einem zweiten Ich. Und wie die Rebellen versuchen, sie und andere Hälften zu befreien. Immer verbunden mit der Hoffnung, dass eines Tages jemand das Heft finden und verstehen wird, was der Welt passiert ist oder besser: Welch diktatorisches System über den Menschen herrscht.

„Unser Leben in den Wäldern“ ist ein unbehaglicher, kurzer Roman, dessen fragmentarische Bilder und oft nur rudimentären Informationen den Leser herausfordern. Ein Roman, der als Warnung formuliert, mit einem überraschenden Ende schließt. Ein Ende, das, sollte man bis hierher den tieferen Sinn noch nicht erschlossen haben, schließlich erschaudern lässt.

Marie Darrieussecq
Unser Leben in den Wäldern
Aus dem Französischen von Frank Heibert
secession Verlag, Zürich 2019
Buch kaufen oder nur hineinlesen

Coverabbildung © secession Verlag

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